Kirchhoffs großer Abend
Burgtheater.
Andrea Breth inszenierte „Eines langen Tages Reise in die Nacht“fulminant, Corinna Kirchhoff brillierte als Mary Tyrone.
Eine Stimme wie ein Reibeisen. Von Beginn an ist klar, wer diese Aufführung dominiert: Corinna Kirchhoff in Eugene O’Neills autobiografischem Familiendrama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, seit Samstagabend im Burgtheater zu erleben. Unbedingt! Andrea Breth hat inszeniert, anfangs werden die Regieanweisungen verlesen, neuerdings gibt es ein Übersetzungsband. Manchmal ist das Englische besser zu verstehen als das Deutsche.
O’Neill (1888-1953) hat viel von Strindberg, doch wirkt er weder mystisch noch egozentrisch. Die Wucht antiker Tragödien wetterleuchtet in seinen Stücken – und irische Lyrik. Der Vater war Schauspieler. Nach erfolgreichen Anfängen mit Shakespeare erwarb er die lukrative Produktion „Der Graf von Monte Christo“und tourte als dieser durch die Lande, seine Angehörigen mit sich schleifend. In „Eines langen Tages Reise in die Nacht“wird die Familiensaga ziemlich genau so nacherzählt, wie sie sich ereignete.
Das Bühnenbild Martin Zehetgrubers führt ins Freie. Im Original spielt die Geschichte im Sommerhaus der Tyrones in New London, Connecticut, im August. Hier lagern wuchtige Felsen, die auf den ersten Blick wie eingepackte Leichen ausschauen, im Hintergrund: ein gewaltiges Skelett.
Tödliche Waffen höherer Töchter
Das Meer ist ein zentrales Symbol des Stücks, es fließt, rauscht, stürmt, tobt – doch bleibt es meist in sich geschlossen wie diese rettungslos ineinander verschmolzenen Charaktere. Zieht man Whisky und Morphium von der Handlung ab, könnte sie sich in jedem (Bürger-)Hause zutragen, jeder Satz ein Stich, jede Pointe ein Hieb. Der Automatismus, mit dem diese Menschen einander auf die Zehen treten – oder, wie man in Wien sagt, die Wuchteln rüberschieben – hat etwas von einem heiligen und skurrilen Ritual.
An diesem Morgen ist Mutter Mary zwei Monate aus der Entziehungsanstalt zurück, die Morphiumsucht zog sie sich bei der Geburt ihres Sohnes Edmund zu. Das zweite Kind, Eugene, starb, weil der Erstgeborene es mit Masern angesteckt hat. Absichtlich?
Es lohnt tatsächlich, sich diese Aufführung allein wegen Kirchhoff noch einmal anzuschauen. Dabei weicht ihre Mary stark von O’Neills Skizze ab: „Warm, sympathisch, fröhlich, irisch.“Irisch ist hier sowieso nichts, sondern nordisch, auch etwas kühl für O’Neill. Mary ist gekleidet wie eine Mischung aus Mesnerin und Lady (Kostüme: Francoise¸ Clavel), das blonde Haar aufgesteckt. Diese Frau weiß, dass sie jederzeit auftreten muss, denn sie lebt mit drei schwierigen Männern im Haus. Deren komplizierte, auch brutale Gruppendynamik hat sie beschädigt. Sie ist aber auch eine Nervensäge, die ständig nach Aufmerksamkeit giert und ihre „Menagerie“mit klagenden oder wütenden Vorwürfen in Schach hält. Je mehr sie in Rage und Rausch gerät, umso wortreicher wird sie, die Jungs suchen dann schon einmal das Weite. Sie gehen die Hecke scheren oder in die Kneipe – oder sie machen sich daheim mithilfe von Alkohol unsichtbar.
Dieses Stück wird sehr oft gespielt, auf YouTube kann man es in allerlei, auch recht schrillen Varianten verkosten. In Salzburg war es zu sehen, in der Josefstadt, stark verknappt, auf 100 Minuten. Eine Mary wie diese, so fein ziseliert bis in die kleinsten Details mütterlicher Vereinnahmungswut und dem Überspielen der Sorge um die verblühende erotische Attraktivität gab es nie.
Der Operngucker ist ein indiskretes Instrument, wie kommen Schauspieler, die ohnedies oft Kameras standhalten müssen, dazu, dass jetzt auch noch der Theaterbesucher sie mit dem Fernglas ausforscht? Aber hier wünscht man sich so ein Gerät, um ja keine der gespielten und echten Stimmungsschwankungen dieser Mary Tyrone zu verpassen, die im Moment, nachdem sie den Männern die Rückkehr in ihre Sucht starrsinnig geleugnet hat, sich selbst eine Lügnerin nennt. An zwei Pfeilern ist diese Persönlichkeit gleichermaßen aufgespannt.
Bechtolf und Diehl, zu adrett für Säufer
Sie hält sich fest an ihrer angeblich feinen Herkunft – und an der Klosterschule. Marys Vater, Lebensmittelgroßhändler, hatte wohl vor, seine Tochter in die besten Kreise der Gründerzeit in den USA zu befördern. Indes, er beging den Fehler, dem halben Kind einen attraktiven Schauspieler vorzustellen.
Dieser James Tyrone, ein einfacher Bursch, der schon als Junge seine Emigrantenfamilie ernähren musste, versteht nicht, was aus der zarten, zaubrischen Elfe geworden ist, die er geheiratet hat. Eine Megäre, die ihn mit Zuckerbrot und Peitsche traktiert und deren Kuren ihn, den Geizhals, ein Vermögen kosten. Dabei sind diese zwei Leute vollkommen symbiotisch – wie übrigens auch Herr und Frau Hofreiter im „Weiten Land“; Kirchhoff und Sven-Eric Bechtolf, waren als das schnitzlerische Katastrophenpaar in Breths Regie in Salzburg zu sehen.
Die Besetzung ist auch hier rundum edel. Bechtolf spielt den Vater James Tyrone. In einem alten Schwarz-Weiß-Film kommt dieser egozentrische Familienvorstand aus seiner Schauspielerrolle nicht heraus. Was er redet, spielt er vor – und wirkt immer hohl. Auf einen solch wirkungsvollen, aber schematischen Lauf wollte sich Bechtolf nicht begeben. Was aber wollte er? Eine imposante Ruine zu mimen, das schafft er nicht.
Auch August Diehl als Edmund verwaltet seine großen Talente mehr, als er sie nutzt. Zum giftigen menschlichen Wrack voll Poesie, das er als Alter Ego O’Neills sein sollte, fehlt ihm viel. Facettenreich spielt Alexander Fehling den ältesten TyroneSohn, Jamie, der jäh von teuflischen Bekenntnissen in greinende Sentimentalität stürzt. Und wunderbar ist Andrea Wenzl als Hausmädchen: So beredt steht keine.
Starker Applaus belohnte diese insgesamt großartige Aufführung, die das seltene Kunststück schafft, vier Stunden die Aufmerksamkeit wachzuhalten. Mit Pause. Auch Theater kann süchtig machen.