„Denken an Geldsorgen legt einen lahm“
Interview. Armutsexperte Martin Schenk spricht über scheinbar antriebslose Mindestsicherungsbezieher, sinnvolle und wenig sinnvolle Geldspenden – und erzählt von seinem Versuch, einen Monat lang mit der Sozialhilfe auszukommen.
Die Presse: Sie sind Mitgründer der Armutskonferenz, eines Netzwerks von Hilfsorganisationen. Waren Sie einmal arm? Martin Schenk: Nein. Wir waren eine klassische Mittelschichtfamilie, die aus eher ärmlichen Verhältnissen – die Großeltern waren Fassbinder, Arbeiter und kleine Bauern – aufgestiegen ist: Meine Eltern sind aus dem Weinviertel nach Wien gezogen und waren beide Angestellte.
Wann wurden Sie mit dem Thema Armut konfrontiert? Eher durch Zufall. Ich bin in das Gymnasium in der Amerlingstraße gegangen. In der siebenten Klasse sollten wir ein Weihnachtsprojekt machen. Auf der Mariahilfer Straße gab es viele Obdachlose. Für die haben wir Tee und Schmalzbrote gemacht. Da hat der Pfarrer von der Mariahilfer Kirche gemeint: „Wir haben eine Gruft, die ist total angeräumt, aber wenn ihr die ausräumt, könnt ihr sie verwenden.“Das war der Beginn der Gruft, die war eigentlich ein Schülerprojekt. Es war das erste Mal, dass ich wirklich Kontakt mit armen Leuten hatte. Während des Studiums habe ich dann zwei Jahre dort gearbeitet.
Hat es Dinge gegeben, die Sie überrascht haben? Ich hatte gar keine Vorstellungen. Was zuerst fremd war, ist dann in einer komischen Weise normal geworden. Was ich aber erst lernen musste, war, Grenzen zu ziehen: Wie kann man Sorge tragen, aber sich nicht selbst auffressen lassen?
Wo zieht man die Grenzen? Zum Beispiel bei Beziehungen oder bei Geld. Es hat damals Jugendliche gegeben, um die ich mich kümmern sollte, die auf der Straße gelebt haben, von daheim abgehaut sind, die auch Gewalt erlebt haben. Ich war selbst noch jung. Da habe ich gelernt: Zum Amt mitzugehen ist wichtig für den Beziehungsaufbau, aber da ist die Grenze. Oder bei Geld: Manchmal sind Geldhilfen noch sinnvoll, manchmal bringen sie gar nichts.
Wann bringen sie gar nichts? Zum Beispiel ist es sinnvoll, einen Mietrückstand zu begleichen, damit jemand nicht delogiert wird. Vielleicht ist es aber nicht sinnvoll, zum fünften Mal hintereinander den Mietrückstand abzudecken, sondern zu schauen, ob es andere Möglichkeiten gibt, die Delogie- rung präventiv zu verhindern. Oft ist es sinnvoller, beim Gesundheitszustand anzusetzen. Oder wenn jemand einsam ist, ihm Möglichkeiten zu Beziehungen und Freundschaften zu geben.
Wie stellt man Freunde zur Verfügung? Der Kulturpass war so eine Idee. Der bestätigt, dass die Leute für eine bestimmte Zeit einkommensarm sind, und gilt an vielen Stätten als Eintritt. 130.000 Tickets im Jahr werden über den Kulturpass vergeben. Da gibt es Leute, die schreiben uns: „Ich bin früher oft wochenlang allein daheim gesessen, aber mit dem Kulturpass habe ich mich wieder herausgetraut und war unter Leuten.“
Kommt es vor, dass die Leute von Ihnen persönlich Geld wollen, und geben Sie dann etwas her? Auf der Straße. Es ist da auch für mich nicht immer leicht, einen guten Umgang zu finden. Manchmal setze ich mir ein Limit, dass ich pro Tag einen oder zwei Euro hergebe. Das hilft.
Ist es besser, an Organisationen zu spenden oder direkt einem Bettler etwas zu geben? Das ist schwierig. Wenn es gute Projekte sind, haben sie einen Multiplikatoreffekt. So ist es besser, mit Kindern Deutsch zu lernen, als ihnen Geld in die Hand zu drücken. Ich würde das aber nicht gegeneinander ausspielen. Man muss Existenz und Chancen sichern. Durch Almosen allein wird man Armut aber nicht bekämpfen.
Gibt es die Bettlermafia? Man weiß nie, wer da vor einem sitzt. Es kann sein, dass da einer das Geld abräumt. Wir wissen aber genauso von Familien aus Rumänien oder der Slowakei, die sich zusammentun und für sich und ihr Dorf sammeln.
Zur Armut gibt es widersprüchliche Statistiken. Der Anteil der Armen sinkt. Zum anderen heißt es, die Schere zwischen Reich und Arm geht auf. Was stimmt? Da gibt es zwei Entwicklungen. Die Armut nimmt seit 2009 ab, was eine gute Botschaft ist. Gleichzeitig gibt es Gruppen, bei denen sie steigt: Leute, die psychische Erkrankungen haben, die langzeitarbeitslos sind und die Probleme mit leistbarem Wohnen haben.
Und geht die Schere auf? Wenn man die Vermögen betrachtet, geht sie auf. Wenn man nur die Lohneinkommen betrachtet, geht sie auch auseinander. Aber das Wichtige für die Leute sind die Haushaltseinkommen, also inklusive Transferleistungen, und da bleibt die Schere gleich.
Welche Vorurteile im Zusammenhang mit Armut ärgern Sie? Im Zusammenhang mit der Leistungsdebatte: Wenn sich jemand aufrafft und einen Entzug macht, ist das eine massive Leistung. Das würde ich gern würdigen und nicht Leuten, die ganz unten sind, die Leistung absprechen.
Passiert das? Ja. Die Mindestsicherungsdebatte wird oft so geführt, dass das alles faule Leute sind. Dabei haben wir
(*1970) ist Menschenrechtsaktivist und engagiert sich besonders im Bereich Armut. Er ist Sozialarbeiter, hat Psychologie in Wien studiert und war Mitinitiator zahlreicher Initiativen, etwa des „Lichtermeers“im Jahr 1993, der Armutskonferenz oder der Initiative „Hunger auf Kunst und Kultur“. Schenk ist Lehrbeauftragter im Studiengang Sozialarbeit an der FH Campus Wien und stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich. in der Beratungsstelle oft Leute, die prekäre Jobs haben, dazu Mindestsicherung erhalten, die Kinder aus der Schule abholen, sie versorgen und sich womöglich wegen des Unterhalts streiten müssen. Das ist ein großer Stress, wenn man Geldsorgen hat. Es gibt Forschungen, die zeigen: Das Denken an Geldsorgen legt einen lahm. Wenn Leute so unter Druck sind, können sie oft ihre Fähigkeiten nicht ausspielen. Und alles, was Belastungen nimmt, erhöht die Fähigkeiten der Leute. Wenn es einem schlecht geht, wird man durch Druck langsamer und nicht schneller.
Was heißt das? Soll man die Mindestsicherung erhöhen, um die Arbeitsmotivation zu steigern? Argumentiert wird oft mit dem Abstandsgebot (Sozialeinkommen sollen geringer sein als Niedriglöhne, Anm.). Doch zeigen Studien zu Hartz IV in Deutschland, dass Alleinstehende, bei denen der Abstand größer ist, schwerer in den Job finden als Familien, bei denen der Abstand geringer ist. Denn es geht nicht nur um den finanziellen Anreiz, es gibt auch andere Faktoren: Partner, die sagen, mach was, Kinder, für die man das macht, ein besseres Eingebundensein in soziale Netze als Alleinstehende, wo niemand da ist, der Motivation ist.
Wenn man viel mit armen Leuten zu tun hat, hat man dann mehr oder weniger Existenzängste? Ich habe eigentlich weniger Existenzängste.
Weil Sie Lösungswege kennen? Ja, vielleicht stimmt das wirklich. Aber vielleicht ist das eine Fiktion, denn es verändert sich das Leben total, wenn man arm wird. Wenn man es von außen analysiert, ist es immer anders, als wenn man selbst drinnen ist. Das ist wie bei den Leuten, die ausprobieren, wie es ist, einen Monat von Mindestsicherung oder Hartz IV zu leben. Das ist nie echt, weil immer die Freiheit besteht zurückzugehen.
Haben Sie schon einmal ausprobiert, einen Monat von der Mindestsicherung zu leben? Ja, wir haben einen Monat diesen Versuch gemacht. Es war fast unmöglich. Ohne Schummeln – wenn man schon in der Speis etwas stehen hat und nicht einkaufen muss oder wenn man die Eltern bittet, dass sie einem etwas geben – wäre ich nicht durchgekommen.
„Wir“heißt die Familie? Die mussten mitmachen? Ja, sonst wäre es noch unfairer, sonst esse ich die Marmelade auf dem Tisch mit. Aber sie mussten nicht, sie wollten. Ohne Schummeln hätten wir es nicht geschafft. Man glaubt es nicht, das ist irre.