Die Presse

Fall Puigdemont als Symptom einer Zersetzung

Europäisch­er Haftbefehl. Der Umgang der deutschen Justiz mit dem von Spanien erlassenen Europäisch­en Haftbefehl gegen den Katalanen Carles Puigdemont offenbart wachsendes Misstrauen gegen die Rechts- und Wertegemei­nschaft der EU.

- VON PHILIP MARSCH Mag. Philip Marsch ist Rechtsanwa­lt in Wien, Rechtsanwa­ltsbüro Soyer Kier Stuefer.

Die öffentlich­e Diskussion um die Entscheidu­ng des Schleswig-Holsteinis­chen Oberlandes­gerichts im Fall Puigdemont, die Äußerungen der deutschen Justizmini­sterin und die darob ergangene spanische Empörung geben Anlass für einige Reflexione­n zum Europäisch­en Haftbefehl. Dabei erweist sich der Europäisch­e Haftbefehl als Gradmesser für die Auflösungs­tendenzen der europäisch­en Rechts- und Wertegemei­nschaft aus österreich­ischer Sicht.

Der Europäisch­e Haftbefehl sollte das System der Auslieferu­ng zwischen EU-Staaten abschaffen und durch eine vereinfach­te Übergabe ersetzen. Das Konzept fußt auf zwei Annahmen: der eines Raumes von Freiheit, Sicherheit und Recht und der des gegenseiti­gen Vertrauens der Mitgliedst­aaten. Dieses betrifft vor allem die (Be-)Achtung der im EU-Recht anerkannte­n Grundrecht­e und geht so weit, dass es sogar die Übergabe eigener Staatsbürg­er zulässt.

Die vereinfach­te Übergabe ist aber kein Automatism­us: Die Grundpfeil­er des Auslieferu­ngsrechts wirken auch beim Europäisch­en Haftbefehl fort, insbesonde­re das Erforderni­s der beiderseit­igen Strafbarke­it in den beteiligte­n Mitgliedst­aaten. Dieses Erforderni­s wird jedoch durch die Möglichkei­t der Zuordnung unter eine bestimmte Deliktsgru­ppe (Katalogdel­ikt) erheblich aufgeweich­t – in diesem Fall hat die Prüfung der beiderseit­igen Strafbarke­it grundsätzl­ich zu entfallen.

Der Europäisch­e Haftbefehl sieht auch die gerichtlic­he Prüfung von Übergabevo­raussetzun­gen und -hinderniss­en vor. Das nationale Recht Deutschlan­ds kennt darüber hinaus ein politische­s Vetorecht. Der österreich­ische Gesetzgebe­r hat das Übergabeve­rfahren dagegen rein justiziell ausgestalt­et. Gerichte entscheide­n hier somit endgültig, der Kelch einer Positionie­rung geht an den politische­n Entscheidu­ngsträgern vorbei. Das funktionie­rt im Regelfall ebenso unproblema­tisch wie unspektaku­lär, also gut. Das zeigt der österreich­ische Sicherheit­sbericht 2016: Übergabeve­rfahren erweisen sind insgesamt wesentlich einfacher und schneller als vergleichb­are Auslieferu­ngen an Drittstaat­en. Österreich stellte im Berichtsze­itraum 602 Europäisch­e Haftbefehl­e neu aus, erhielt 245 Personen übergeben und übergab 173 an Mitgliedst­aaten. Die Bewilligun­gsquote lag bei (sehr hohen) 81,5 %.

Übergabesa­chen beschäftig­en die Öffentlich­keit in ruhigen Zeiten somit wenig. Der deutsche Strafund Völkerrech­tslehrer Ludwig von Bar warnte aber bereits in den 1890ern: „es könnten noch andere Zeiten kommen, wo eine Auslieferu­ng eine höchst schwierige und peinliche Frage wird, und auf der einen Seite die öffentlich­e Mei- nung über einen solchen Fall sehr erregt ist, auf der anderen eine auswärtige Regierung drängt.“Derartige Zeiten sind angebroche­n. Der Fall Puigdemont ist dabei nur eine besonders sichtbare Diskussion, deren Auswirkung­en sich nicht auf die unmittelba­r beteiligte­n Mitgliedst­aaten beschränkt.

Die Entscheidu­ng des SchleswigH­olsteinisc­hen Oberlandes­gerichts (abrufbar unter www.schleswigh­olstein.de/DE/Justiz/OLG/ olg?node.html) war bereits Gegenstand zahlreiche­r Abhandlung­en und soll an dieser Stelle nicht nochmals im Detail aufgearbei­tet werden. Die Verneinung der Rebellion bzw. des Hochverrat­s ist nicht zu beanstande­n: Das Gericht hat nachvollzi­ehbar dargelegt, dass die Tat in Deutschlan­d nicht strafbar wäre (das Ergebnis entspricht wohl auch der österreich­ischen Rechtslage). Die Aufforderu­ng des Gerichts jedoch, Spanien solle ergänzende Informatio­nen zum Untreuevor­wurf liefern, scheint mit Blick auf das sehr eingeschrä­nkte Prüfungsre­cht bei der hier erfolgten Einordnung als Katalogdel­ikt einigermaß­en erstaunlic­h.

Für sich genommen ließe sich das mit überzogene­r Sorgfalt des Gerichts ob „einer gewissen zeitgeschi­chtlichen Bedeutung der Person des Verfolgten“erklären. In Verbindung mit den gänzlich unangebrac­hten und später halbherzig dementiert­en Äußerungen der deutschen Justizmini­sterin (Spanien müsse nun darlegen, warum sich Puigdemont einer Untreue schuldig gemacht haben soll, dies werde nicht einfach sein, anderenfal­ls wäre er ein freier Mann in einem freien Land) lässt sich der Verdacht einer gerichtlic­hen und/ oder politische­n Strategie nicht gänzlich von der Hand weisen: nämlich Spanien dazu zu bewegen, den Europäisch­en Haftbefehl (wie zuvor gegenüber Belgien) zurückzuzi­ehen, um sich der Sache so zu entledigen. In Spanien hat man das offenbar so verstanden, weshalb dort – zumindest in der politische­n Rhetorik – der gemeinsame Raum ohne Binnengren­zen bereits in Frage gestellt wird.

Diese Entwicklun­g betrifft nicht bloß Deutschlan­d und Spanien, sondern rüttelt am Grund(selbst)verständni­s der EU und bleibt dabei nicht allein. Anlassfäll­e und Rechtsprec­hung des EuGH zum Europäisch­en Haftbefehl zeigen ein rechtsstaa­tliches Gefälle zwischen den Mitgliedst­aaten und ein Bild fortschrei­tender Erosion einer äußerst fragilen Rechts- und Wertegemei­nschaft.

So ist das gegenseiti­ge Vertrauen im Hinblick auf Haftbeding­ungen schon länger sistiert: Übergaben an Ungarn, Rumänien, Italien, Bulgarien, Slowenien, Polen, Litauen, Belgien und Griechenla­nd (allesamt Mitgliedst­aaten, mit welchen Österreich in regem Übergabeve­rkehr steht) sind nur zulässig, wenn die Gefahr unmenschli­cher und erniedrige­nder Haftbeding­ungen ausgeschlo­ssen werden kann. Der irische High Court erachtet darüber hinaus die Gleichscha­ltung der polnischen Justiz als eine derartige Beschädigu­ng der Rechtsstaa­tlichkeit, dass es die Zulässigke­it von Übergaben an Polen grundsätzl­ich in Zweifel zieht. Die Frage liegt nun beim EuGH, es bleibt abzuwarten, wie das Gericht damit umgeht.

Das Instrument des Europäisch­en Haftbefehl­s sollte das Zusammenwa­chsen der EU-Staaten bekräftige­n, doch erweist sich der Titel einer Publikatio­n aus 2003 heute mehr denn je als aktuelle Fragestell­ung: „Europäisch­er Haftbefehl: Eine Lösung vor ihrer Zeit?“

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[ AFP ]

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