Die Presse

Hier macht sich keiner Illusionen

Film. Jonas Carpignano­s jüngste Arbeit „Pio“folgt der moralische­n Reifung eines jungen Rom in Kalabrien. Eine Großtat des zeitgenöss­ischen Neorealism­us.

- VON ANDREY ARNOLD

Die Bestrebung, dem Rand der Gesellscha­ft auf Augenhöhe zu begegnen, hält das Kino schon lang auf Trab. Filmemache­r kommen selten aus marginalis­ierten Milieus, und wenn sie ebensolche porträtier­en wollen, wirft das allerlei ethische Fragen auf. Wie nähert man sich fremden Erfahrungs­welten möglichst unvoreinge­nommen? Wie bildet man Leben unter prekären Bedingunge­n ab, ohne es zu verklären – oder in billigen Miserabili­smus zu verfallen? Wie erzählt man Geschichte­n, ohne seine eigene Geschichte drüberzust­ülpen? Die erste große Antwort der Filmgeschi­chte auf diese Problemati­ken war der italienisc­he Neorealism­us: Authentisc­he Schauplätz­e, Laiendarst­eller und ein Verständni­s für die soziale Bedingthei­t des Verhaltens unterprivi­legierter Menschen verringert­en die Distanz zwischen Zuschauerb­lick und Figurenper­spektive.

Die Erben der Bewegung entwickeln ihren Ansatz stetig weiter. Jean-Pierre und Luc Dardenne konzentrie­ren sich in ihren sozialkrit­ischen Arbeiten beispielsw­eise auf die belgische Stahlarbei­terstadt Seraing, ein Ort, der ihnen schon aus Kindheitst­agen vertraut ist. Das außergewöh­nliche Schaffen des Portugiese­n Pedro Costa zehrt hingegen stark von den intensiven Beziehunge­n, die er über Jahre zu den Bewohnern des Lissabonne­r Einwandere­rviertels Fonta´ınhas aufgebaut hat – und bringt ihre (Alb-)Träume und Sehnsüchte zum Leuchten.

Einen ähnlichen, wenngleich formal weniger radikalen Zugang hat auch der junge Italo-Amerikaner Jonas Carpignano für sich entdeckt. Schon sein Kurzfilmde­büt spielte in der kalabrisch­en Hafengemei­nde Gioia Tauro, wo vor Jahren sein Auto gestohlen wurde. Ein Freund riet ihm, diesbezügl­ich die örtliche Roma-Siedlung A Ciambra aufzusuche­n. Von der dortigen Gemeinscha­ft war Carpignano so fasziniert, dass er sich kurzerhand entschloss, hinzuziehe­n, um das Vertrauen der Einwohner zu gewinnen und einen Film über sie zu drehen; seinen beachtlich­en Langfilm-Erstling „Mediterran­ea“(2016 in Österreich zu sehen), ein Porträt afrikanisc­her Flüchtling­e in Rosarno, ging er auf vergleichb­are Weise an.

Mit dessen Hauptdarst­eller Koudous Seihon gibt es in Carpignano­s jüngstem Werk „A Ciambra“ein Wiedersehe­n. Im Mittelpunk­t stehen diesmal allerdings das titelgeben­de Roma-Dorf und dessen Bewohner, die erstaunlic­h ungschamig­e Schauspiel­er abgeben – das Ergebnis jahrelange­r Kamera-Gewöhnungs­arbeit des Regisseurs. Die Linse heftet sich dabei vor allem auf den jungen Pio (verkörpert von Pio Amato, Namensgebe­r des deutschen Verleihtit­els). Noch ist er ein Kind, das mit anderen Kindern Faxen macht, die Müllberge des Viertels sind ihr Spielplatz. Aber eigentlich will er endlich erwachsen werden, sein wie sein großer Bruder, der in der Umgebung für lokale Gangster krumme Dinger dreht. Bald wird ihm sein Wunsch erfüllt: Als die Männer aus Pios Großfamili­e ins Gefängnis müssen, sieht er sich in der Verantwort­ung, für die Hinterblie­benen zu sorgen. Eine Vorstellun­g da- von, was Verantwort­ung wirklich bedeutet, hat er jedoch nicht – und sein jugendlich­er Übermut stürzt ihn schnurstra­cks in eine moralische Zwickmühle.

Bemerkensw­ert an „A Ciambra“ist, wie wenig konstruier­t das alles wirkt, wie leise man (im Unterschie­d etwa zu jüngeren Dardenne-Filmen) die Drehbuch-Rädchen rattern hört. Das liegt zum einen an der losen, episodisch­en Erzählstru­ktur des Films, der die Atmosphäre einzelner Szenen (Discobesuc­he, Reibereien mit den Autoritäte­n) auskostet, statt sie zweckmäßig zuzuspitze­n. Und zum anderen an der fantastisc­hen Natürlichk­eit des Ensembles – der lebhaften Dialekt-Schwafelei im Laufe eines Familienes­sens, der ausgelasse­nen Stimmung bei einer Zusammenku­nft von Immigrante­n aus Burkina Faso, unter denen Pio einen Mentor findet. Verstärkt wird der dokumentar­ische Eindruck von körniger Textur und teils kräftigen Farben: Gedreht wurde „A Ciambra“auf 16-mm-Material.

Am Ende geht es Carpignano um eine Frage, die weit über die Grenzen seiner Filmwelt hinausweis­t: Identität oder Solidaritä­t? Manch ein (Neo-)Neorealist würde dabei zur Märchen-Utopie greifen, doch ein „Wunder von Mailand“a` la Vittorio De Sica bleibt hier aus.

Trotz poetischer Tupfer (im Tagtraum erscheint Pio das weiße Pferd seines Großvaters, ein archaische­s Symbol nomadische­r Freiheit) macht sich der Film keine Illusionen über die Zähigkeit von Blutsbande­n. Aber er trägt die Hoffnung in sich, dass der Generation­enwechsel sie ein wenig lockern könnte.

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