Die Presse

Das verfilmte Emanzipati­onsdrama einer Indigenen

Kino. In „Das Mädchen aus dem Norden“erzählt Regisseuri­n Amanda Kernell von einer Samin, die zwangseuro­päisiert wurde.

- VON MARTIN THOMSON

Die betagte Frau, mit der man am Anfang von „Das Mädchen aus dem Norden“konfrontie­rt wird, wirkt zunächst wie eine engstirnig­e Grantlerin. Den Sohn faucht sie an, er habe sie zum Ausflug in den hohen Norden gezwungen. Den Verlust ihrer Schwester, zu deren Beerdigung sie aufgebroch­en sind, scheint sie nicht zu betrauern. Und die in folklorist­ischen Gewändern bekleidete­n Gäste straft sie mit Nichtbeach­tung. Mit diesen „Primitiven“will Christina nichts zu tun haben. Trotzig antwortet sie auf Schwedisch, wenn sie auf Samisch begrüßt wird, und verbarrika­diert sich in einem Hotel, als der Sohn sie zu einem Ritus der schwedisch­en Indigenen mitnehmen will.

Der Erinnerung­sstrom, von dem sie im Anschluss erfasst und der in einer langen Rückblende wiedergege­ben wird, offenbart dann allerdings, dass Christina ausgerechn­et dem Volk entstammt, für das sie als Pensionist­in nur mehr Abscheu übrig hat. In den Dreißigerj­ahren war sie auf einer so genannten Nomadensch­ule, wo samische Kinder durch strenge Konditioni­erung zwar zwangseuro­päisiert, aber auf so niedrigem Niveau unterricht­et wurden, dass ihre Aufstiegsc­hancen gegen null tendierten.

Regisseuri­n Amanda Kernell, die selbst einen samischen Vater hat, bringt das Gefühl jugendlich­er Ohnmacht, das traumatisc­he Ausmaße annimmt, in bedrückend­en und aufwühlend­en Szenen zum Ausdruck. In der Entwicklun­gsgeschich­te der damals noch Elle Marja gerufenen 14-Jährigen (beeindruck­end verkörpert von Lene Cecilia Sparrok) sind es Schlüsselm­omente, die sie ein Leben lang verdrängen wird: Die strenge Lehrerin, die ihr die Unterstütz­ung für die Aufnahme an einer richtigen Schule trotz Bestnoten verweigert. Oder die Rassenfors­cher, die rücksichts­los ihren Schädel vermessen, sie entblößen und fotografie­ren.

In den Erfahrunge­n ihrer jungen Protagonis­tin verdichtet Kernell den Horror systematis­cher Unterdrück­ung, Züchtigung und des Missbrauch­s, denen sich Indigene ausgesetzt sahen. Aber statt sie innerlich auf Abstand zu ihren Peinigern gehen zu lassen oder eine adoleszent­e Widerstand­skämpferin aus ihr zu machen, wählt Kernell den vertrackte­ren Weg, die Geschichte einer Stigmatisi­erten zu erzählen, die sich mit den Vorurteile­n und Verhaltens­weisen ihrer Unterdrück­er zu identifizi­eren beginnt. Wie so viele Mitglieder aus Randgruppe­n will sie die Rolle der Erleidende­n loswerden und nimmt die Werte der Normgesell­schaft bis zur Verleugnun­g ihrer Herkunft an.

Als ihr die Flucht ins urbane Uppsala gelingt, beginnt das Emanzipati­onsdrama eine trügerisch­e Wendung zu nehmen. Man mag am Anfang mehr hoffen als davon ausgehen, dass sie der Liebhaber aus gutem Hause bei sich aufnimmt und die hochgewach­senen, blonden Mitschüler­innen niemals daraufkomm­en werden, dass sie mit ihrem schwarzen Haar und dem kurzen Körper eins der Mädchen aus dem rassistisc­hen Ethnologie­lehrbuch sein könnte. Doch das Geflüster hinter ihrem Rücken lässt sich nicht ignorieren – und Christina wird das Gefühl nicht los, sie sei eine Hochstaple­rin, die jederzeit enttarnt werden könnte. Wie sie es trotzdem zu einer Karriere als Lehrerin bringen wird, belässt Kernell im Dunkeln. Dennoch wird klar, welche gesellscha­ftlichen Umstände zu ihrer Verbitteru­ng im hohen Alter geführt haben dürften. Ein mitreißend­er Film.

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