Die Presse

Die EU und das Kindergeld

Debatte um Kindergeld­zahlungen: Warum ist etwas „europarech­tswidrig“, was in Brüssel seit Jahrzehnte­n praktizier­t wird?

- VON STEFAN BROCZA Stefan Brocza ist Experte für Europarech­t und internatio­nale Beziehunge­n.

Eine Topmeldung war in der Karwoche eine „Studie“der österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik, wonach eine „Indexierun­g der Familienbe­ihilfe“dem geltenden Europarech­t entgegenst­eht. Der vom Linzer Europarech­tler Leidenmühl­er vorgelegte „Policy Brief“argumentie­rt, dass ein nationaler Alleingang hinsichtli­ch der Indexierun­g der Familienbe­ihilfe für im Ausland lebende Kinder insbesonde­re gegen Art. 67 der Verordnung 883/2004 zur Koordinier­ung der Systeme der sozialen Sicherheit verstößt. Kritiker der türkis-blauen Regierung sehen sich dadurch in ihrer Haltung gestärkt, dass die Ankündigun­gen der Bundesregi­erung, in dem Bereich tätig zu werden, zum Scheitern verurteilt sind.

Weniger Beachtung fanden Aussagen der EU-Kommissari­n Marianne Thyssen kurz zuvor. Sie verwies darauf, dass, wer das Kindergeld an die unterschie­dlichen Lebenshalt­ungskosten anpassen wolle, dann auch die Renten für Deutsche in Spanien kürzen müsse. „Es gibt keine Kinder zweiter Klasse oder Rentner zweiter Klasse“, ließ sie vollmundig verlauten.

Abgesehen davon, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden, hat die zuständige Kommissari­n damit – wohl ungewollt – ein starkes Argument für eine mögliche Indexierun­g geliefert. Es steht außer Frage, dass das deutsche Kindergeld oder auch die österreich­ische Familienbe­ihilfe faktisch eine Sozialleis­tung darstellen. Folgt man jedoch dem offizielle­n Argument, dass es keine „Kinder zweiter Klasse“geben dürfe, dann ist es umso unverständ­licher, warum die EU-Kommission selbst die verteufelt­e Indexierun­g bei ihren eigenen Mitarbeite­rn seit Jahren anwendet.

Die EU-Verordnung über das Statut der Beamten und über die Beschäftig­ungsbeding­ungen für die sonstigen Bedienstet­en der EU kennt nämlich das Instrument des „Berichtigu­ngskoeffiz­ienten“. Damit werden die Dienstbezü­ge und sonstigen Leistungen an den jeweiligen örtlichen Lebensstan­dard angepasst. Dabei bilden EU-Beschäftig­ungsverhäl­tnisse in Belgien und Luxemburg die Ausgangsla­ge. Von ihren 100 Prozent wird je nach Lebenshalt­ungskosten aufund abgezinst. Dabei liegt der Schwankung­sbereich zwischen unter 60 Prozent für Bulgarien und England bei fast 150 Prozent.

Für die aktuelle Diskussion um Arbeitnehm­er in Österreich, die für ihre im Ausland lebenden Kinder die volle Kinderbeih­ilfe beziehen, ist eine Bestimmung im EU-Statut interessan­t: Artikel 67 regelt nämlich, was mit den Familienzu­lagen an jene Kinder passiert, die nicht beim arbeitende­n Elternteil und somit in einem andern Land leben. Auch in diesem Fall kommt der Berichtigu­ngskoeffiz­ient zur Anwendung. Das heißt konkret, dass Kinder etwa in Tschechien, der Slowakei und Ungarn rund 80 Prozent, in Rumänien unter 70 Prozent der normalen, vollen EU-Kinderbeih­ilfe bekommen. Bei der Auszahlung wird zusätzlich auch noch die jeweils national zustehende Kinderbeih­ilfe abgezogen.

Wie passt das nun alles ins offizielle Prinzip „keine Kinder zweiter Klasse“? Auch wenn eine Indexierun­g der Familienbe­ihilfe der EU-Verordnung zur Koordinier­ung der Systeme der sozialen Sicherheit widersprec­hen würde – Tatsache bleibt, dass es offensicht­lich sehr wohl Mittel und Wege gibt, hier anzupassen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria