Silicon Valley soll Beweismittel liefern
Justizpolitik. Mehr als jede zweite Strafermittlung in Europa erfordert bereits Zugriff auf digitale Beweismittel, die im Ausland lagern. Die Kommission will die Herausgabe dieser E-Evidence an die Strafbehörden stark vereinfachen.
Was tun, wenn zwei Rauschgifthändler mittels WhatsApp ihre Geschäfte regeln? Wenn Terroristen sich via Facebook Messenger absprechen? Möchte ein ermittelnder Staatsanwalt in einem Unionsmitgliedstaat Zugriff auf diese digitalen Gesprächsprotokolle erhalten, weil sie ein Beweismittel für die Vorbereitung seiner Anklage darstellen, steht er derzeit allzu oft vor einem unüberwindbaren bürokratischen Problem: Die Daten liegen auf Rechnern im Ausland – im ungünstigsten Fall gar außerhalb Europas. Um sie zu erhalten, muss er somit einen Antrag im Rahmen eines gegenseitigen Justizhilfeabkommens an das jeweilige Standortland dieser Server stellen. Bis dieses Ansuchen behandelt wird, vergehen bisweilen Wochen – und das digitale Beweismittel ist möglicherweise nichts mehr wert, weil sich die Kriminellen in der Zwischenzeit auf selbigem Weg erneut abgesprochen oder ihren elektronischen Austausch gelöscht haben. Mehr als die Hälfte der Strafermittlungsverfahren in den Mitgliedstaaten der Union erfordert laut EU-Statistik bereits den Zugriff auf solche im Fachjargon E-Evidence genannten Beweismittel, die im Ausland lagern. Das traditionelle Mittel der Justizhilfeabkommen wird angesichts der technologischen Revolutionierung menschlicher Kommunikation obsolet. Ein fachlich zuständiger EU-Diplomat eines großen Mitgliedstaates verglich es mit der Situation Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Polizisten zu Fuß oder bestenfalls per Fahrrad unterwegs waren, während organisierte Banden die neue Technologie des Automobils rasch für ihre unseligen Zwecke nutzten.
Dieser technologische Rückstand soll sich nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission verringern. Heute, Dienstag, segnet sie bei ihrer Sitzung in Straßburg einen zweiteiligen Gesetzesvorschlag ab, der es Europas Justizbehörden ermöglichen soll, direkt auf die als Beweismittel benötigten Daten zuzugreifen („Die Presse“berichtete am 8. März über diese Pläne).
Die Eckpunkte dieses Vorschlags zirkulieren seit Tagen in Brüssel, am Montag veröffentlichte die Nachrichtenplattform Euractiv folgende Beschreibung: Anbieter von digitalen Dienstleistungen sollen künftig auf Antrag binnen zehn Tagen digitale Beweismittel herausgeben müssen. Sofern unmittelbare Gefahr für die Unversehrtheit einer Person oder einer Einrichtung besteht, soll das binnen sechs Stunden erfolgen: wenn also der Verdacht erhärtbar ist, dass ein terroristischer Anschlag oder ein Schwerverbrechen unmittelbar bevorsteht. Die digitalen Dienstleister müssen zu diesem Zweck juris- tisch geschulte kompetente Ansprechpersonen bereithalten, die solche Anfragen schnell erledigen können. Ob ein Staatsanwalt den Antrag stellen kann oder ob dies ein Richter tun muss, soll von der Art der erforderten Daten und der Schwere des vermuteten Delikts abhängen. Die Kommission schlägt das Mindeststrafmaß von drei Jahren Freiheitsentzug als Grenze für Sachverhalte vor, aufgrund deren so eine Datenherausgabe auf dem kurzen Weg zu erfolgen habe. Wenn reine Nutzerdaten wie Name, Adresse oder Kreditkartennummer benötig werden, soll dies ein Staatsanwalt ohne richterliche Ermächtigung beantragen können. Geht es hingegen um den Inhalt der Kommunikation, also E-Mails oder Chat-Protokolle, soll das nur ein Richter dürfen.
Dieser Vorstoß wendet sich klarerweise in erster Linie an die Silicon-Valley-Industrie. Wollen diese Betriebe in der EU Geschäft betreiben, sollen sie sich nach dem Willen der Kommission diesem neuen Regime fügen müssen. Das wird den brodelnden Datenschutzkonflikt mit den USA verschärfen, denn der Kongress hat erst vor wenigen Wochen den sogenannten Cloud Act beschlossen, der es US-Justizbehörden erleichtert, ihrerseits digitale Beweismittel von Servern außerhalb der USA zu verlangen.
Wie stark der Widerstand gegen diesen Vorschlag im Europaparlament sein wird, hängt davon ab, wer Berichterstatter im federführenden Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres wird. Im Rat, dem Gremium der Mitgliedstaaten, ist wenig Einspruch zu erwarten: Die Justizminister sprachen sich bei ihrer jüngsten Tagung im März einhellig für diesen Vorschlag aus.