Marxismus „Made in China“
Sozialismus. Wenige Tage vor dem 200. Geburtstag von Karl Marx betont Chinas Staatschef die Bedeutung der Ideologie des deutschen Denkers – vorausgesetzt, sie werde an China angepasst.
Ist der Marxismus tot in einem Land, in dem mehr als 2000 Superreiche leben? In dessen Metropolen mehr Ferrari, Porsche und Rolls-Royce fahren als in den Städten Europas? In dem die oberen ein Prozent ein Drittel des gesamten Vermögens im Land besitzen? Geht es nach Chinas Staatsund Parteichef Xi Jinping, dann lebt die Ideologie von Karl Marx – und sollte unter seiner Führung sogar noch überzeugter verfochten werden.
So rief Xi die Kader nur wenige Tage vor dem 200. Geburtstag des deutschen Denkers am 5. Mai in sperrigem Parteisprech auf, „die Kraft der Marxistischen Wahrheit tiefer zu verstehen und zu begreifen“. Die Partei solle noch härter daran arbeiten, den Marxismus fit für das 21. Jahrhundert zu machen und ihn an das gegenwärtige China anzupassen, sagte er in einer Studiensitzung des Politbüros, dem zentralen Machtorgan der Kommunistischen Partei. „Das Kommunistische Manifest“von Karl Marx und Friedlich Engels sei dafür von zentraler Bedeutung.
Unter Xi Jinping erleben Sozialismus und damit auch Marxismus ein gewaltiges Comeback. Der mächtige Staatsmann will die Kader disziplinieren, einer kompletten Sinnentleerung der Parteiränge durch den Kapitalismus entgegenwirken. Offiziell zu Tage trat dieses Revival beim 19. Parteitag der KP im Oktober, als Xi seine sozialistische Theorie in den Parteistatuten verankern ließ. „Sozialismus chinesischer Prägung in einer neuen Ära“lautet das Gebot der Stunde. Xi habe wesentlich dazu beigetragen, die Staatsideologie noch chinesischer zu machen, so die Propagandisten. Sie stellen seine Theorien auf eine Ebene mit jenen von Marx, Lenin und Staatsgründer Mao Zedong.
Ein zentraler Punkt seiner Theorie: China sei in eine neue Phase der sozialistischen Entwicklung eingetreten. Bis 2050 werde das chinesische Volk „allgemeinen Wohlstand“erlangen. Die Partei schürt damit die Hoffnung, dass das kommunistische Ideal einer klassenlosen Gesellschaft eines Tages doch erreicht werden kann. Die Lehren Maos, dass das Ziel jeder Politik die Lösung von Widersprüchen sei, passt ins Konzept.
Denn dass in vielen ländlichen Regionen nach wie vor bittere Ar- mut herrscht, während in den Städten ein Konsumtempel nach dem anderen aufpoppt, sei nur ein Widerspruch, den China bis zur Verwirklichung des Sozialismus überwinden müsse. Viele Chinesen freilich können diese Verheißungen nicht überzeugen.
So versucht die Führung in Peking vor dem Marx-Jubiläum ihre Theorien an den Mann zu bringen. Eine Radioreihe soll den Vater des Sozialismus für die Post-90er-Generation greifbarer machen. Zu Marx’ Geburtstag enthüllt seine Heimatstadt Trier eine drei Tonnen schwere Bronzestatue – ein Geschenk aus China, gefertigt von einem chinesischen Staatsbildhauer. Und Marxismus-Unterricht ge- hört schon seit Jahren fest zum chinesischen Lehrplan – oft zum Leid der Schüler, die nichts für die trockenen Kurse übrig haben.
Doch Xi Jinpings Vision reicht weit über die Staatsgrenzen hinaus. Er ist fest davon überzeugt, dass das chinesische Modell eine Alternative zur westlichen Demokratie ist. Chinas gegenwärtige Vorstellung des Marxismus sei zwar weit von der Originalversion entfernt und sicherlich ein Mittel zum Machterhalt für die KP, schreibt der Chinabeobachter Bill Bishop. „Aber das bedeutet nicht, dass Xi kein leidenschaftlicher Marxist ist, dessen Eifer nur zunimmt, nun, da sich die Welt in einer Weise entwickelt, die jeden sensiblen chinesischen Marxisten sich im Grab umdrehen ließe.“