„Cumhuriyet“: Eine Zeitung will sich nicht geschlagen geben
Türkei. Nach dem Urteil gegen mehrere Redakteure zeigt sich das regierungskritische Blatt kämpferisch.
Istanbul. Falls die türkische Justiz vorgehabt haben sollte, die Reporter, Kolumnisten und Verlagsangestellten der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“einzuschüchtern, so hat sie ihr Ziel verfehlt. Ein Gericht hat 14 Mitarbeiter der Publikation am Mittwochabend zu Haftstrafen von bis zu siebeneinhalb Jahren verurteilt. Doch als die Angeklagten am Donnerstag in der Redaktion zur Arbeit erschienen, gab es keine Trauermienen, im Gegenteil. Im Hof des Redaktionsgebäudes spielte Musik, es gab kämpferische Reden und viele Umarmungen.
Wegen Unterstützung von Terrororganisationen standen die „Cumhuriyet“-Kollegen vor Gericht, die meisten von ihnen verbrachten lange Monate in Untersuchungshaft. Die Tatvorwürfe der Staatsanwaltschaft sind reichlich merkwürdig. So soll die strikt säkularistisch ausgerichtete Zeitung drei Organisationen geholfen haben, von denen sie ideologische Welten trennen: der kurdischen Terrorgruppe PKK, der linksextremen DHKP-C und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Einer der Verurteilten, der Reporter Ahmet Sık,¸ saß vor Jahren, als Gülen noch ein Verbündeter von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan˘ war, schon einmal im Gefängnis – damals wurde ihm zur Last gelegt, die Gülen-Bewegung verleumdet zu haben.
Berufungsverfahren steht noch an
Als Sık¸ und die anderen „Cumhuriyet“-Mitarbeiter am Donnerstag zur Arbeit kamen, war von Niedergeschlagenheit nichts zu spüren. „Sie können uns keine Angst mehr machen“, sagte der Chef des „Cumhuriyet“Vorstands, Akın Atalay, der am Mittwoch nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft als letzter Angeklagter auf freien Fuß gesetzt wurde. Seinen Kollegen berichtete er bei der Redaktionssitzung davon, er habe sich beim Gang aus dem Gefängnistor wie neugeboren gefühlt. Der erste Schluck des türkischen Nationalschnapses Rakı habe ganz besonders gut geschmeckt.
Anderthalb Jahre werde das jetzt anstehende Berufungsverfahren dauern, sagt der Kolumnist Aydın Engin. Bis dahin dürften die Journalisten vor dem Gefängnis sicher sein. Zudem erhalten sie viel Zuspruch von türkischen und westlichen Journalistenverbänden – und von ihren Lesern. Viele Türken suchen spätestens nach dem Verkauf der Mediengruppe Dogan˘ – mit der Zeitung „Hürriyet“und dem Nachrichtensender CNN-Türk – an den regierungstreuen Konzern Demirören im März nach Alternativen: Seit dem Dogan-˘Verkauf hat sich die täglich verkaufte Auflage von „Cumhuriyet“fast verdoppelt.
Während die Redaktion im Istanbuler Stadtteil Si¸sli¸ zu ihrer ersten Sitzung seit den Verurteilungen zusammentrat, forderte die deutsche Übersetzerin Mesale¸ Tolu im Verhandlungssaal der 29. Istanbuler Schwurgerichtskammer das Ende ihres Ausreiseverbots. Auf der Anklagebank sprach Tolu von ihrem kleinen Sohn, Serkan, der eigentlich in Deutschland in den Kindergarten gehen sollte, aber nicht kann, weil seine Eltern die Türkei nicht verlassen dürfen. Seit einem Jahr gehe das jetzt schon so. Damit solle nun Schluss sein, forderte Tolu. Auch ihr Mann, Suat C¸orlu, und die anderen Angeklagten verlangten vor den Richtern das Ende ihrer Ausreiseverbote. Doch das Gericht blieb hart. Alle in diesem Prozess angeklagten müssen weiterhin in der Türkei bleiben; der nächste Verhandlungstag wurde auf den 16. Oktober festgesetzt.
Nach der Sitzung winkte Tolu den beiden in Untersuchungshaft sitzenden Mitbeschuldigten nach, die in Handschellen zurück zum Gefängnis gebracht wurden. Mehrere Monate lang saß Tolu im vergangenen Jahr selbst hinter Gittern, zeitweise hatte sie ihren Sohn im Gefängnis bei sich. Seit Dezember ist sie auf freiem Fuß, doch sie muss sich regelmäßig bei der Polizei melden.
„Die Akte ist leer“
Die aus Ulm stammende Übersetzerin ist ratlos: In ähnlichen Fällen hätten andere deutsche Angeklagte doch ohne Auflagen sofort ausreisen dürfen, sagte sie mit Blick auf den Menschenrechtler Peter Steudtner und den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel. Bei ihr sei das von Anfang an anders gehandhabt worden. „Es ist ein SchikaneUrteil“, schimpfte die Linken-Politikerin Heike Hänsel, die wie der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, bei der Gerichtsverhandlung mit im Saal war. „Die Bundesregierung muss den Druck hier erhöhen.“
Eine sachliche Begründung für die Fortsetzung des Ausreiseverbots lieferte das Gericht nicht. Tolu und ihre Mitangeklagten stehen wegen des Verdachts vor Gericht, linksextreme Terrorgruppen unterstützt zu haben. Es gebe keinerlei Beweise, schimpfte Tolus Vater Ali Rıza. „Die Akte ist leer.“