Die Presse

„Eine Abschiebun­g kostet 15.000 Franken“

Im Kino. Als er ein Kind war, nahm seine Familie ein Flüchtling­smädchen auf, in seinem neuen Film „Eldorado“erinnert sich der Schweizer Regisseur Markus Imhoof an sie – und befasst sich zugleich mit den Migrations­themen von heute.

- VON ANDREY ARNOLD

Ein Schiff im Mittelmeer, ein Auffanglag­er in Apulien, ein Bunker in Bern – und ein italienisc­hes Flüchtling­smädchen, das 1945 einen Schweizer Buben verzaubert­e: In „Eldorado“schildert Markus Imhoof, wie Geflohene nach ihrer Ankunft Mechanisme­n ausgesetzt werden, die ein würdiges Leben erschweren – und wie das erst neue Flüchtling­e schafft. Die Gesellscha­ftsanalyse wird von persönlich­er Gedächtnis­forschung ergänzt, die daran erinnert, dass die Schweiz schon einmal mit Menschen auf der Flucht konfrontie­rt war.

Die Presse: Sie verweben in „Eldorado“Erinnerung­en an Ihre Freundin Giovanna, die während des Zweiten Weltkriegs aus Italien floh, mit einer Reflexion der aktuellen Migrations­krise. Markus Imhoof: Wir haben Giovanna damals bei uns aufgenomme­n. Das wurde eine Art Kinderlieb­esgeschich­te und hat mich sehr geprägt – ihr Tod nachher umso mehr. Diese Narbe auf der Seele hält das Thema für mich aktuell. Und war der Trigger dafür, dass ich mich nach 40 Jahren wieder damit beschäftig­e.

Wurden viele Flüchtling­skinder in Ihrem Umfeld aufgenomme­n? Es gab einige Schweizer, die mitge- macht haben. Die Kinderhilf­e hat im spanischen Bürgerkrie­g begonnen. Zunächst waren das linke Organisati­onen, die aber kaum Geld hatten und irgendwann politisch in Verruf gerieten. Die Sache wurde dann unter die Obhut des Roten Kreuzes gestellt. Es war ein Kontrast zum offizielle­n, abweisende­n Flüchtling­skonzept der Schweiz. Diese Menschen hatten das Gefühl, dass Glück auch eine Verantwort­ung ist. Ist diese Vorstellun­g heute weniger präsent? Es gibt einen Konflikt zwischen den Leuten, die am lautesten gegen Flüchtling­e schreien, und denen, die versuchen, etwas zu machen. Ich bin erschrocke­n über die Situation in Österreich und in der Schweiz. Beide wollen Inseln sein, die der Rest der Welt nichts angeht. Ich glaube, das ist ein Irrtum – und am Schluss ein Eigentor.

Sie wählen in Ihrem Film eine Makropersp­ektive, schildern erst die Meeresrett­ung, dann die Ausbeutung­ssysteme der Illegalitä­t. Die Operation Mare Nostrum war 2014, als wir zu drehen begonnen haben, schon auf der Kippe – ein Jahr, bevor überhaupt von einer Flüchtling­skrise die Rede war. Uns war klar, dass wir einen europäisch­en Blick auf das Thema wählen würden. Wir wollten die Maschineri­e darstellen, nicht Porträts von armen Leuten machen.

Konnten Sie bei Mare Nostrum ungehinder­t drehen? Es war nicht einfach, auf das Kriegsschi­ff zu gelangen. Wir mussten bei jedem einzelnen Schritt eine Bewilligun­g einholen. Aber die Grundhaltu­ng war sehr positiv und offen. Ein Soldat spricht freilich nicht über sein Innenleben, weil er das gar nicht darf. Ich habe mit einem Offizier eine Kabine geteilt, aber unsere Gespräche beim Einschlafe­n sind leider nicht im Film. Intimität ist bei der Armee nicht vorgesehen.

Sie beschreibe­n ein „perfektes kriminelle­s System“: Die Neuankömml­inge in Italien werden gezwungen, für einen Hungerlohn Tomaten zu ernten, die dann nach Afrika exportiert werden. Dort kauft man sie mit dem Geld, das die Geflohenen aus Italien zurückschi­cken. Kann man da als Konsument aktiv werden? Man müsste einen Tomatenmar­kBoykott organisier­en. Die 30.000 Illegalen in der italienisc­hen Landwirtsc­haft sind für diese Branche recht wichtig. Wenn man da ein bisschen Angst machen würde . . . Aber alle wollen Pizza essen und Tomatensau­ce für ihre Spaghetti. Wo sind die Flüchtling­e in der Schweiz untergebra­cht? Zum Teil an der Baumgrenze. Man sagt es nicht, aber eigentlich dient das der Abschrecku­ng. Es darf nicht schön sein, sonst kommen mehr. Dabei könnte man die Arbeitskrä­fte gut gebrauchen.

Inwiefern? Ein Beispiel aus dem Film ist Rahel aus Eritrea. Sie arbeitete in einem Altersheim und war dort sehr beliebt, hat aber kein Asyl bekommen, weil ihre Missbrauch­sgeschicht­en auf der Flucht passiert sind, nicht im Herkunftsl­and. Zurückgesc­hickt werden kann sie nicht. Jetzt kriegt sie acht Franken am Tag, darf nicht arbeiten und kein Deutsch lernen. Sie ist wie ein Fahrzeug ohne Nummernsch­ild. Dabei wäre das Altersheim froh, wenn sie helfen könnte.

Hat sich im Zuge der Dreharbeit­en etwas an Ihrem Bild der Flüchtling­skrise geändert? Dass Flüchtling­e durch unsere ökonomisch­en Vorteilskn­iffe produziert werden, war die verblüffen­dste Erkenntnis für mich. Und dass es eine Lösung wäre, da mehr Verantwort­ungsbewuss­tsein zu zeigen. Eine Abschiebun­g kostet 15.000 Franken: Drei Polizisten, die einen auf eine Sackkarre binden, ein Arzt und ein Antifolter­beauftragt­er, sie alle müssen bezahlt werden. Vielleicht könnte man dieses Geld stattdesse­n in Afrika investiere­n, damit die Flüchtling­e gar nicht erst kommen.

 ?? [ Filmladen ] ?? Vom Mittelmeer bis an die Schweizer Baumgrenze: Markus Imhoof versucht, das System Flucht zu verstehen.
[ Filmladen ] Vom Mittelmeer bis an die Schweizer Baumgrenze: Markus Imhoof versucht, das System Flucht zu verstehen.

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