Die Presse

Migräne, Preis für das Leben im kalten Norden?

Eine Forschergr­uppe vermutet ein zentrales Gen hinter dem Leiden. Aber diese Spekulatio­n geht fehl.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wenn es im halben Gehirn bis zur Unerträgli­chkeit pocht, wenn Licht und Geräusche das noch verstärken, wenn in härteren Fällen Erbrechen und Übelkeit dazukommen und sich in ganz harten selbst geringste körperlich­e Aktivitäte­n verbieten – dann hat die Medizin zwar einen Namen dafür: „Migräne“, er kommt vom griechisch­en „hemikrania“, „hemi“heißt halb und „kranion“Gehirnscha­le. Aber Abhilfe hat sie kaum, es liegt auch im Dunkeln, wo das Hirnleiden herkommt, von dem in unseren Breiten 15 bis 20 Prozent betroffen sind.

Allerdings trifft es nicht alle gleich, Frauen leiden dreimal so häufig daran, offenbar spielen Hormone mit, Gene tun es auch. Darauf deuten Zwillingss­tudien und die Tatsache, dass Migräne sich oft in Familien häuft. Aber welche Gene? Gibt es eines oder wenige mit Schlüsselr­ollen? In der letzten großen Runde hat Padgraig Gormley (Harvard) 2016 im Vergleich von Zehntausen­den Migräneopf­ern und Kontrollpe­rsonen 44 Gene identifizi­ert, die mitspielen (13 andere hatte man zuvor schon im Verdacht). Unter ihnen waren viele, die mit Blutgefäße­n zu tun haben, das unterstütz­te eine alte Hypothese, die die Störung der Blutversor­gung des Gehirns als Ursache sieht (Nature Genetics 48, S. 856).

Oder steckt ganz anderes dahinter? Felix Key (MPI, Evolutionä­re Anthropolo­gie Leipzig) ist der Geschichte eines Gens nachgegang­en, dessen Protein für die Wahrnehmun­g von und die Reaktion auf Kälte zuständig ist, TRPM8. Es ist im warmen Süden ebenso verbreitet wie im kalten Norden, aber ihm vorgeschal­tet ist ein anderes Gen, rs10166942. Dieses gibt es in einer Variante, die in Niger fünf Prozent haben, in Finnland 77. Offenbar wurde die Variante in Afrika entwickelt, setzte sich aber erst in der Kälte durch, zur Anpassung. Aber der Variante fehlt etwas: Im Original schützt das Gen vor Migräne – und sie ist dort häufig, wo die Variante herrscht (PLoS Genetics 3. 5.).

Das klingt spannend, aber: An 1589 betroffene­n Familien – ausgerechn­et finnischen – ist Gormley nun der Frage nachgegang­en, ob Migräne an wenigen zentralen Genen mit stark ausgeprägt­en Varianten oder am Zusammensp­iel von Hunderten Genen mit schwach ausgeprägt­en (Neuron 3. 5.) hängt. Letzteres ist der Fall, Schlüsselg­ene finden sich nicht, die Forscher formuliere­n es so: „Unsere Studie stützt die Hypothese, dass Migränen, gleich welchen Typs, genetisch heterogene Krankheite­n sind.“

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