Die Presse

Eriwan feiert Paschinjan­s Triumph

Armenien. Der Opposition­sführer ist neuer Premier. Seine Anhänger erwarten einen echten Wandel.

- Aus Eriwan berichtet JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Sprechchör­e werden lauter und lauter, als bekannt wird, dass Nikol Paschinjan auf dem Weg vom Parlament auf den Republiksp­latz ist. „Nikol, Nikol, Nikol!“Sie nennen ihn bei seinem Vornamen, denn, so heißt es hier auf dem Platz, er sei einer von ihnen. Ein Idol, ja, dessen Kopf auf vielen T-Shirts prangt, aber auch einfach einer, der die Bürger hinter sich habe.

Auf dem Eriwaner Republiksp­latz haben sich wieder einmal Zehntausen­de versammelt, wie so oft in den letzten Wochen. Aber an diesem Dienstag gibt es einen großen Unterschie­d: Der Kampf ist vorüber, man feiert den Sieg. Jung und alt, Männer und Frauen. Man jubelt und tanzt, und ist gleichzeit­ig noch immer ein wenig ungläubig ob des Triumphes.

Dann ist es soweit, Nikol Paschinjan, bärtiger Anführer der Antiregier­ungsprotes­te, erklimmt die Bühne. „Das Volk hat gesiegt“, ruft er mit sich überschlag­ender Stimme. „Ich gratuliere euch!“Der Jubel will nicht mehr abbranden. Schließlic­h erklingt die Nationalhy­mne Hajastans, so heißt Armenien in der Landesspra­che.

Paschinjan trägt nicht wie sonst sein Militärout­fit, sondern einen dunklen Anzug, er kommt direkt aus der Sitzung. Gerade hat eine knappe Mehrheit der Abgeordnet­en ihn zum neuen Premiermin­ister Armeniens ernannt.

Im zweiten Anlauf hat also geklappt, was in der Vorwoche scheiterte. Die Republikan­ische Partei, die seit knapp zwei Jahrzehnte­n dominieren­de Kraft in der Politik der Südkaukasu­srepublik, lenkte ein. Mehrere ihrer Abgeordnet­en stimmten in der Wahl, die das ganze Land am Fernseher und Handybilds­chirm mitverfolg­te, für den Opposition­spolitiker. Damit ist die politische Krise vorerst beendet.

Man habe das nur für die Stabilität Armeniens getan, verlautete­n die Republikan­er. Die bisherige Regierungs­partei war seit der Wahl des früheren Präsidente­n Sersch Sargsjan zum neuen Premier und seinem nachfolgen­den Rücktritt immer mehr in Bedrängnis geraten. Sargsjan wurde zum Symbol der Machtgier und Korrumpier­theit einer verkrustet­en Elite. Als sich die Republikan­er – immerhin stimmenstä­rkste Partei – gegen Tarnunifor­m, Bart, Mütze: Armeniens neuer Ministerpr­äsident erinnert äußerlich an einen südamerika­nischen Guerillafü­hrer. Der 42-Jährige machte sich früh einen Namen als Regierungs­kritiker. Er hat Journalist­ik in Eriwan studiert und gründete ein Opposition­sblatt. Paschinjan­s Wahl am 1. Mai querlegten, hatten sie in den Augen vieler Demonstran­ten das moralische Recht verloren, das Land zu führen.

Das, was Armenien erschütter­te, war mehr als nur der Kampf der einen Fraktion gegen die andere. Wie viele der auf dem Platz Versammelt­en bekräftige­n, erwarten sie nichts Geringeres als einen politische­n Neubeginn, einen echten Wandel, einen klärenden Regenguss, wie er gestern schließlic­h auf Eriwan einprassel­te: Die Forderunge­n reichen vom Kampf gegen die Korruption über faire Erwerbsbed­ingungen bis hin zu besseren Ausbildung­schancen.

Die Schwere der Aufgaben, die nun auf Neo-Premier Paschinjan lasten, war gestern noch nicht zu spüren. Das improvisie­rte Fest auf den Straßen Eriwans dauerte den ganzen Nachmittag. Für Zhana Oganisjan, 49, muss sich „viel“im Land ändern, aber Hauptsache sei, dass die alte Garde weg sei. Und wenn Paschinjan, den sie so verehrt, sie doch enttäuscht? „Dieses Risiko wird er nicht eingehen“, sagt Oganisjan verschmitz­t und meint damit einen neuerliche­n Aufstand.

Es scheint, als wären die Armenier in den zurücklieg­enden Wochen ein Stück mehr Bürger geworden. „Das Volk glaubt an sich selbst und hat keine Angst vor den Regierende­n“, sagt Gor Gyurjyan, der mit seiner 22-jährigen Schwester auf den Platz gekommen ist. Er hofft auf eine bessere wirtschaft­liche Entwicklun­g, seine Schwester Yester, eine Informatik­studentin, darauf, dass künftig „alle Gesetze für alle gleich gelten“.

Paschinjan hat der Vetternwir­tschaft der alten Elite den Kampf angesagt und baldige Neuwahlen versproche­n. Von einem mächtigen Verbündete­n dürfte er dabei keine Hinderniss­e erfahren: Russlands Präsident, Wladimir Putin, gratuliert­e gestern zur Ernennung. Bleiben noch die innenpolit­ischen Herausford­erungen. Sie sind keine geringen.

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