Kopenhagens langer Schatten
Rechtsstaat. Vor 25 Jahren öffnete die Union die Tür für die Osterweiterung. Bedingung dafür war die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien. Ihre Wirkmacht ist nun in Frage.
Der Satz ist lapidar, doch er beschreibt eine Zeitenwende in der jüngeren Geschichte Europas: „Der Europäische Rat hat heute beschlossen, dass die assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden können.“So steht es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen geschrieben, der am 22. Juni 1993 erstmals die Bereitschaft der Union festhielt, die bis vor Kurzem noch von Moskau unterdrückten mittel- und osteuropäischen Republiken beitreten zu lassen.
Diese grundsätzliche Bereitschaft zur Osterweiterung war allerdings an Bedingungen geknüpft, die für keines der sechs Länder gegolten hatten, die seit 1957 zu den sechs Gründungsmitgliedern Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande, und Luxemburg hinzugestoßen waren (und auch nicht für die damals im Beitrittsprozess befindlichen Kandidaten Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen). Der Beitrittskandidat muss erstens stabile staatliche Institutionen haben als Garantie für „demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“. Er muss zweitens „funktionsfähige Marktwirtschaft“aufweisen und fähig sein, „dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten“. Drittens kann nur EU-Mitglied werden, wer „die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen“übernehmen kann.
Diese ebenso bedeutungsschweren wie vagen Sätze nehmen in der 48-seitigen Kopenhagener Erklärung der Staats- und Regierungschefs gerade einmal einen Absatz von zwölf Zeilen ein. Niemand dachte da- mals daran, dass diese Kopenhagener Kriterien im Wandel der Zeit zu einem bisweilen fast mythisch überhöhten Kodex für unionstaugliches Verhalten hochgeschraubt würden. Und so hat ihre Elastizität in den folgenden Jahren einerseits jenen Entscheidungsspielraum ermöglicht, den Europas Politiker benötigten, um die Beitrittswellen von 2004 und 2007 zu beschließen. Andererseits erwachsen aus der Diffusität dieser Kriterien all jene Probleme, mit denen die Union heute in einigen dieser Mitgliedstaaten ringt – man führe sich nur den verzweifelten Kampf von Kommissionsvizechef Frans Timmermans um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn vor Augen.
Die Vorstellung, dass die Kopenhagener Kriterien glasklare Bedingungen für das Ja oder Nein eines Beitritts sind, ist spätestens seit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens überholt. Beide Staaten erfüllten die Anforderungen an Justiz, Verwaltung und Gesetzgebung zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kreis der Unionsmitglieder klar nicht. Doch die Erweiterungspolitik war zu einem Selbstläufer geworden, und man hielt es für politisch unvertretbar, Sofia und Bukarest vor der Tür zu halten. Als Krücke hat Brüssel ein sogenanntes Kooperations- und Kontrollverfahren lanciert, im Rahmen dessen die beiden Staaten halbjährlich über ihre Fortschritte bei der Behebung der institutionellen Mängel berichten müssen. Sanktionen gibt es nicht, und so dümpelt das Verfahren seit mehr als einem Jahrzehnt ohne Mehrwert und Folgen dahin.
Das Problem an den Kopenhagen-Kriterien: Sie wirken nur bis zum Beitritt. Darauf spielte die Politikwissenschaftlerin Rebecca Adler-Nissen dieser Tage bei einer Konferenz in Kopenhagen an, als sie warnte: „Leuchttürme sind großartig, wenn man auf hoher See navigiert. Aber sie sind weniger hilfreich, sobald man an Land und ein Mitgliedstaat ist. Hier brauchen wir Verkehrsregeln.“Sich auf diese zu einigen, ist Sache des Europäischen Rates, dem nun auch die Spitzen jener Staaten mit Vetorecht angehören, die eifrig an der politischen Unterwerfung von Justiz, Verwaltung und Medien werken.
beschloss der Europäische Rat in Kopenhagen, dass die bis vor Kurzem noch kommunistischen mittel- und osteuropäischen Staaten prinzipiell der EU beitreten können sollen. Voraussetzung dafür seien aber die seither als Kopenhagener Kriterien bezeichneten Bedingungen stabiler staatlicher Institutionen, einer funktionierenden Marktwirtschaft sowie die Übernahme der Pflichten einer Mitgliedschaft.