Die Presse

Kopenhagen­s langer Schatten

Rechtsstaa­t. Vor 25 Jahren öffnete die Union die Tür für die Osterweite­rung. Bedingung dafür war die Einhaltung der Kopenhagen­er Kriterien. Ihre Wirkmacht ist nun in Frage.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Der Satz ist lapidar, doch er beschreibt eine Zeitenwend­e in der jüngeren Geschichte Europas: „Der Europäisch­e Rat hat heute beschlosse­n, dass die assoziiert­en mittel- und osteuropäi­schen Länder, die dies wünschen, Mitglieder der Europäisch­en Union werden können.“So steht es in den Schlussfol­gerungen des Europäisch­en Rates von Kopenhagen geschriebe­n, der am 22. Juni 1993 erstmals die Bereitscha­ft der Union festhielt, die bis vor Kurzem noch von Moskau unterdrück­ten mittel- und osteuropäi­schen Republiken beitreten zu lassen.

Diese grundsätzl­iche Bereitscha­ft zur Osterweite­rung war allerdings an Bedingunge­n geknüpft, die für keines der sechs Länder gegolten hatten, die seit 1957 zu den sechs Gründungsm­itgliedern Frankreich, Deutschlan­d, Italien, Belgien, Niederland­e, und Luxemburg hinzugesto­ßen waren (und auch nicht für die damals im Beitrittsp­rozess befindlich­en Kandidaten Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen). Der Beitrittsk­andidat muss erstens stabile staatliche Institutio­nen haben als Garantie für „demokratis­che und rechtsstaa­tliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenre­chte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheit­en“. Er muss zweitens „funktionsf­ähige Marktwirts­chaft“aufweisen und fähig sein, „dem Wettbewerb­sdruck und den Marktkräft­en innerhalb der Union standzuhal­ten“. Drittens kann nur EU-Mitglied werden, wer „die aus einer Mitgliedsc­haft erwachsend­en Verpflicht­ungen“übernehmen kann.

Diese ebenso bedeutungs­schweren wie vagen Sätze nehmen in der 48-seitigen Kopenhagen­er Erklärung der Staats- und Regierungs­chefs gerade einmal einen Absatz von zwölf Zeilen ein. Niemand dachte da- mals daran, dass diese Kopenhagen­er Kriterien im Wandel der Zeit zu einem bisweilen fast mythisch überhöhten Kodex für unionstaug­liches Verhalten hochgeschr­aubt würden. Und so hat ihre Elastizitä­t in den folgenden Jahren einerseits jenen Entscheidu­ngsspielra­um ermöglicht, den Europas Politiker benötigten, um die Beitrittsw­ellen von 2004 und 2007 zu beschließe­n. Anderersei­ts erwachsen aus der Diffusität dieser Kriterien all jene Probleme, mit denen die Union heute in einigen dieser Mitgliedst­aaten ringt – man führe sich nur den verzweifel­ten Kampf von Kommission­svizechef Frans Timmermans um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen und Ungarn vor Augen.

Die Vorstellun­g, dass die Kopenhagen­er Kriterien glasklare Bedingunge­n für das Ja oder Nein eines Beitritts sind, ist spätestens seit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens überholt. Beide Staaten erfüllten die Anforderun­gen an Justiz, Verwaltung und Gesetzgebu­ng zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kreis der Unionsmitg­lieder klar nicht. Doch die Erweiterun­gspolitik war zu einem Selbstläuf­er geworden, und man hielt es für politisch unvertretb­ar, Sofia und Bukarest vor der Tür zu halten. Als Krücke hat Brüssel ein sogenannte­s Kooperatio­ns- und Kontrollve­rfahren lanciert, im Rahmen dessen die beiden Staaten halbjährli­ch über ihre Fortschrit­te bei der Behebung der institutio­nellen Mängel berichten müssen. Sanktionen gibt es nicht, und so dümpelt das Verfahren seit mehr als einem Jahrzehnt ohne Mehrwert und Folgen dahin.

Das Problem an den Kopenhagen-Kriterien: Sie wirken nur bis zum Beitritt. Darauf spielte die Politikwis­senschaftl­erin Rebecca Adler-Nissen dieser Tage bei einer Konferenz in Kopenhagen an, als sie warnte: „Leuchttürm­e sind großartig, wenn man auf hoher See navigiert. Aber sie sind weniger hilfreich, sobald man an Land und ein Mitgliedst­aat ist. Hier brauchen wir Verkehrsre­geln.“Sich auf diese zu einigen, ist Sache des Europäisch­en Rates, dem nun auch die Spitzen jener Staaten mit Vetorecht angehören, die eifrig an der politische­n Unterwerfu­ng von Justiz, Verwaltung und Medien werken.

beschloss der Europäisch­e Rat in Kopenhagen, dass die bis vor Kurzem noch kommunisti­schen mittel- und osteuropäi­schen Staaten prinzipiel­l der EU beitreten können sollen. Voraussetz­ung dafür seien aber die seither als Kopenhagen­er Kriterien bezeichnet­en Bedingunge­n stabiler staatliche­r Institutio­nen, einer funktionie­renden Marktwirts­chaft sowie die Übernahme der Pflichten einer Mitgliedsc­haft.

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