Sklaverei und „die Rasse der Unterdrückten“
Geschichte. Europa habe Hitler nur das Verbrechen „am weißen Menschen“nicht verziehen, schrieb er, heute liegt er im Pantheon neben Voltaire: Aim´e C´esaires berühmtes Pamphlet „Über den Kolonialismus“liegt wieder auf Deutsch vor.
Kurz vor dem morgigen Weltgedenktag der Sklaverei hat US-Rapper Kanye West im Interview für internationale Aufregung gesorgt. „Wenn man von über 400 Jahre langer Sklaverei hört: 400 Jahre lang? Das klingt für mich nach eigener Wahl . . . So lange in dieser Position zu bleiben, obwohl wir eine große Masse auf unserer Seite hatten, zeigt, dass wir mental gefangen waren.“Waren die Sklaven also mit schuld an der eigenen Gefangenschaft? Nach heftigen Protesten beschränkte West seine Aussagen: Die (Selbst-)Identifikation von Schwarzen mit der Sklaverei, von Juden mit dem Holocaust wirke schwächend; sie sei ein inneres Gefängnis.
Dieser Gedanke ist schon weniger bizarr: dass es nicht sinnvoll sei, eine Identität auf erlittenes Leid zu gründen. Wann kann es sinnvoll sein? Das ist auch eine Zeit- und Generationenfrage. Es ist ein Unterschied, ob zu einer Solidargemeinschaft der Kolonialisierungsopfer im Jahr 2018 aufgerufen wird, oder ob das im Jahr 1950 geschah. Wie in einem der einflussreichsten Texte des Antikolonialismus, der „Rede über den Kolonialismus“(„Discours sur le colonialisme“). Zum zehnten Todestag ihres Verfassers ist sie nun wieder auf Deutsch erhältlich.
„Höchster Leichenberg der Geschichte“
Dieser, Aime´ Cesaire,´ Schriftsteller und Politiker, liegt heute neben Victor Hugo und E´mile Zola, Rousseau und Voltaire oder auch Pierre und Marie Curie im Pariser Pantheon,´ dieser Ruhmeshalle französischer Geistesgrößen. Am 17. April, seinem zehnten Todestag, verneigte sich dort Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, vor seinem Grab. Eine bedeutungsvolle Symbolik. Denn Cesaire,´ beheimatet im französischen Überseedepartement Martinique in der Karibik, hat die europäische Kolonialvergangenheit so heftig und wortgewaltig kritisiert wie kaum ein anderer.
Sein zorniges Pamphlet wurde als antikolonialistisches Manifest berühmt. Europa sei verantwortlich „für den höchsten Leichenberg der Geschichte“, liest man darin etwa; es habe in 400 Jahren Kolonialismus „150 Millionen Opfer“auf dem Gewissen. Dieser habe die Kolonialisierten nicht zivilisiert, sondern verroht – und die Kolonialisie- renden selbst ebenfalls. Europa sei „eine sterbende Zivilisation“, weil es mit den eigenen Grundsätzen sein Spiel treibe. Und was die Europäer Hitler „nie verziehen“hätten, sei „nicht das Verbrechen an sich, nicht das Verbrechen am Menschen an sich, sondern das Verbrechen am weißen Menschen“. Kurz: „Europa ist unhaltbar.“
Über ein halbes Jahrhundert war der 1913 geborene Cesaire´ nach seiner Studienzeit in Paris Bürgermeister der Hauptstadt von Martinique, fast ein halbes Jahrhundert als Abgeordneter seines Landes Mitglied der französischen Nationalversammlung – und dazu ein wichtiger Autor. Picasso illustrierte einen seiner Gedichtbände, zu einer von ihm herausgegebenen Anthologie lieferte Sartre das Vorwort, und der Surrealist Andre´ Breton veröffentlichte in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift.
Das Konzept der „negritude“´ („Schwarzheit“) als einer selbstbewussten Solidargemeinschaft aller Schwarzen, geeint durch erlittenes Unrecht, geht maßgeblich auf Ce-´ saire zurück. Sein ebenfalls von Martinique stammender Schüler Frantz Fanon radikalisierte es. In „Die Verdammten dieser Erde“plädierte er für Gewalt als Befreiungsmittel. Fanon ist bis heute ein Vorbild militanter linker Antikolonialisierungs- und Antiglobalisierungsverbände.
Sartres „antirassistischer Rassismus“
Und wie radikal war Cesaire?´ Weniger radikal als manch linker europäischer Intellektueller seiner Zeit. Als Sartre sein Konzept als militanten „anti-rassistischen Rassismus“begrüßte, widersprach er vehement: „Jede Form des Rassismus wäre Verrat an der Negritude.“´ Er hielt den Europäern ihre eigenen Werte vor, gegen die sie verstoßen hätten, sah sich als Humanisten, den „Pseudohumanismus“auf Seiten der Kolonialismusverteidiger. Überzeugter Kommunist, trat er in den Fünfzigerjahren, als das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen bekannt wurde, aus der kommunistischen Partei aus – und warf in der Folge europäischen Intellektuellen vor, an einem zum „Albtraum“gewordenen Sozialismus festzuhalten. Und während der Kommunist Frantz Fanon die Zusammenarbeit mit weißen Kommunisten ablehnte, verstand er die „Rasse der Unterdrückten“als universale Kategorie.
Linke Antikolonialismus-Romantik
Auch Cesaire´ verklärte freilich „unsere alten“afrikanischen Gesellschaften – als demokratisch, brüderlich, antikapitalistisch; das und seine Vorstellung von einer Gemeinschaft aller (vom imperialistischen Westen) Unterdrückter machte seinen Text zur Vorlage heutiger linker Antikolonialismus-Romantik.
Aber auch mit heutigen rechten Kulturkämpfern hat Cesaire,´ insofern ein Kind der Zwischenkriegszeit, etwas gemeinsam: Er suchte ebenfalls nach dem „Wesen“einer Gemeinschaft – in diesem Fall „der Schwarzen“–, er suchte es zwar nicht im Blut, aber in der Kultur. Gegenwärtige Verteidiger der „abendländischen Kultur“freilich fürchten einen Dominanzverlust, Cesaire´ hingegen hat die Zeit noch erlebt, in der „die afrikanische“Kultur für eine Mehrheit als barbarisch galt. Es macht schon einen Unterschied, wann wer wo etwas schreibt – oder sagt.