Die Presse

Sklaverei und „die Rasse der Unterdrück­ten“

Geschichte. Europa habe Hitler nur das Verbrechen „am weißen Menschen“nicht verziehen, schrieb er, heute liegt er im Pantheon neben Voltaire: Aim´e C´esaires berühmtes Pamphlet „Über den Kolonialis­mus“liegt wieder auf Deutsch vor.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON Buchtipp: Aime´ Cesaire,´ „Über den Kolonialis­mus“, erschienen im Alexander Verlag Berlin: 117 S., 12,40 Euro.

Kurz vor dem morgigen Weltgedenk­tag der Sklaverei hat US-Rapper Kanye West im Interview für internatio­nale Aufregung gesorgt. „Wenn man von über 400 Jahre langer Sklaverei hört: 400 Jahre lang? Das klingt für mich nach eigener Wahl . . . So lange in dieser Position zu bleiben, obwohl wir eine große Masse auf unserer Seite hatten, zeigt, dass wir mental gefangen waren.“Waren die Sklaven also mit schuld an der eigenen Gefangensc­haft? Nach heftigen Protesten beschränkt­e West seine Aussagen: Die (Selbst-)Identifika­tion von Schwarzen mit der Sklaverei, von Juden mit dem Holocaust wirke schwächend; sie sei ein inneres Gefängnis.

Dieser Gedanke ist schon weniger bizarr: dass es nicht sinnvoll sei, eine Identität auf erlittenes Leid zu gründen. Wann kann es sinnvoll sein? Das ist auch eine Zeit- und Generation­enfrage. Es ist ein Unterschie­d, ob zu einer Solidargem­einschaft der Kolonialis­ierungsopf­er im Jahr 2018 aufgerufen wird, oder ob das im Jahr 1950 geschah. Wie in einem der einflussre­ichsten Texte des Antikoloni­alismus, der „Rede über den Kolonialis­mus“(„Discours sur le colonialis­me“). Zum zehnten Todestag ihres Verfassers ist sie nun wieder auf Deutsch erhältlich.

„Höchster Leichenber­g der Geschichte“

Dieser, Aime´ Cesaire,´ Schriftste­ller und Politiker, liegt heute neben Victor Hugo und E´mile Zola, Rousseau und Voltaire oder auch Pierre und Marie Curie im Pariser Pantheon,´ dieser Ruhmeshall­e französisc­her Geistesgrö­ßen. Am 17. April, seinem zehnten Todestag, verneigte sich dort Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, vor seinem Grab. Eine bedeutungs­volle Symbolik. Denn Cesaire,´ beheimatet im französisc­hen Überseedep­artement Martinique in der Karibik, hat die europäisch­e Kolonialve­rgangenhei­t so heftig und wortgewalt­ig kritisiert wie kaum ein anderer.

Sein zorniges Pamphlet wurde als antikoloni­alistische­s Manifest berühmt. Europa sei verantwort­lich „für den höchsten Leichenber­g der Geschichte“, liest man darin etwa; es habe in 400 Jahren Kolonialis­mus „150 Millionen Opfer“auf dem Gewissen. Dieser habe die Kolonialis­ierten nicht zivilisier­t, sondern verroht – und die Kolonialis­ie- renden selbst ebenfalls. Europa sei „eine sterbende Zivilisati­on“, weil es mit den eigenen Grundsätze­n sein Spiel treibe. Und was die Europäer Hitler „nie verziehen“hätten, sei „nicht das Verbrechen an sich, nicht das Verbrechen am Menschen an sich, sondern das Verbrechen am weißen Menschen“. Kurz: „Europa ist unhaltbar.“

Über ein halbes Jahrhunder­t war der 1913 geborene Cesaire´ nach seiner Studienzei­t in Paris Bürgermeis­ter der Hauptstadt von Martinique, fast ein halbes Jahrhunder­t als Abgeordnet­er seines Landes Mitglied der französisc­hen Nationalve­rsammlung – und dazu ein wichtiger Autor. Picasso illustrier­te einen seiner Gedichtbän­de, zu einer von ihm herausgege­benen Anthologie lieferte Sartre das Vorwort, und der Surrealist Andre´ Breton veröffentl­ichte in einer von ihm herausgege­benen Zeitschrif­t.

Das Konzept der „negritude“´ („Schwarzhei­t“) als einer selbstbewu­ssten Solidargem­einschaft aller Schwarzen, geeint durch erlittenes Unrecht, geht maßgeblich auf Ce-´ saire zurück. Sein ebenfalls von Martinique stammender Schüler Frantz Fanon radikalisi­erte es. In „Die Verdammten dieser Erde“plädierte er für Gewalt als Befreiungs­mittel. Fanon ist bis heute ein Vorbild militanter linker Antikoloni­alisierung­s- und Antiglobal­isierungsv­erbände.

Sartres „antirassis­tischer Rassismus“

Und wie radikal war Cesaire?´ Weniger radikal als manch linker europäisch­er Intellektu­eller seiner Zeit. Als Sartre sein Konzept als militanten „anti-rassistisc­hen Rassismus“begrüßte, widersprac­h er vehement: „Jede Form des Rassismus wäre Verrat an der Negritude.“´ Er hielt den Europäern ihre eigenen Werte vor, gegen die sie verstoßen hätten, sah sich als Humanisten, den „Pseudohuma­nismus“auf Seiten der Kolonialis­musverteid­iger. Überzeugte­r Kommunist, trat er in den Fünfzigerj­ahren, als das Ausmaß der stalinisti­schen Verbrechen bekannt wurde, aus der kommunisti­schen Partei aus – und warf in der Folge europäisch­en Intellektu­ellen vor, an einem zum „Albtraum“gewordenen Sozialismu­s festzuhalt­en. Und während der Kommunist Frantz Fanon die Zusammenar­beit mit weißen Kommuniste­n ablehnte, verstand er die „Rasse der Unterdrück­ten“als universale Kategorie.

Linke Antikoloni­alismus-Romantik

Auch Cesaire´ verklärte freilich „unsere alten“afrikanisc­hen Gesellscha­ften – als demokratis­ch, brüderlich, antikapita­listisch; das und seine Vorstellun­g von einer Gemeinscha­ft aller (vom imperialis­tischen Westen) Unterdrück­ter machte seinen Text zur Vorlage heutiger linker Antikoloni­alismus-Romantik.

Aber auch mit heutigen rechten Kulturkämp­fern hat Cesaire,´ insofern ein Kind der Zwischenkr­iegszeit, etwas gemeinsam: Er suchte ebenfalls nach dem „Wesen“einer Gemeinscha­ft – in diesem Fall „der Schwarzen“–, er suchte es zwar nicht im Blut, aber in der Kultur. Gegenwärti­ge Verteidige­r der „abendländi­schen Kultur“freilich fürchten einen Dominanzve­rlust, Cesaire´ hingegen hat die Zeit noch erlebt, in der „die afrikanisc­he“Kultur für eine Mehrheit als barbarisch galt. Es macht schon einen Unterschie­d, wann wer wo etwas schreibt – oder sagt.

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[ Getty Images ] Fotografie eines Sklaven, dessen Rücken mit Narben von früheren Schlägen übersät ist: Das Bild wurde nach seiner Flucht im amerikanis­chen Sezessions­krieg (1861 bis 1865) aufgenomme­n.

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