Der Sänger mit dem (neuen) Herzen, die Muscheln ohne Herz
In Portugal isst man Tiere, die Daumenfüßler heißen; für Portugal gewann letztes Jahr ein Mann, dem alles Prahlerische fremd ist.
Und jetzt kommt die Nachricht, dass sich Portugals Wirtschaft nach bleiernen Jahren der Rezession kräftig erholt hat.
Eine Spezialität Portugals sind die auf Deutsch fälschlich sogenannten Entenmuscheln. Im Portugiesischen heißen diese nach Radiergummis schmeckenden Tierchen Percebes, und wenn man Portugiesen fragt, warum die Percebes so heißen, wie sie heißen, also wörtlich übersetzt: Verstehst du?, schauen sie einen verlegen an, bescheiden lächelnd wie üblich, ratlos. Das Wort kommt nämlich aus dem Galizischen, percebe, was sich ursprünglich aus dem Lateinischen pollicipes herleitet, zusammengesetzt aus pollex (Daumen) und pes (Fuß), tja, Daumenfüßler also, Percebes haben eine Art Fuß, mit dem sie sich an Felsen festkrallen, aber dieser Fuß ist bei ihnen alles, der Körper, Beine, Verdauungs- und Ge- schlechtsorgane, und der Sitz ihrer Seele wohl auch, oben ragt eine Art Röhre raus, das ist der Kopf, in dem ist nichts, und den isst man, Percebes haben kein Herz, so kann man sich auch nicht in sie verlieben, Verzehr fällt demnach leichter.
Als 2017 Salvador Sobral den Sieg beim Song Contest für Portugal holte, war das aus dreierlei Gründen bemerkenswert, einmal, weil das Land 49 Jahre lang erfolglos teilgenommen hat, so lang wie viele andere, siegreiche Nationen nicht (allein Aserbaidschan: elf Teilnahmen, fünfmal unter den ersten Fünf, ein Sieg), zweiter Grund: Sobrals Lied wurde nicht von teuren Mietkomponisten aus Skandinavien oder den USA geschrieben, wie das längst gängige Praxis ist (siehe Aserbaidschan), sondern von seiner Schwester, so blieb alles überschaubar, klein und bescheiden, das Lied war auch keine bombastische Nummer, alles Prahlerische war ihm fremd, es hatte etwas Introspektives, Leises, und der dritte Grund kam erst später heraus, Sobral, obwohl jung an Jahren, war herzkrank, er hat das aber nicht an die große Glocke gehängt, sondern das kam sukzessive heraus, und passte in den demütig bescheiden Rahmen seines Auftritts, wenn man pathetisch wäre, könnte man sagen, ein Märchen fand statt, das Gute und die Gerechtigkeit siegten.
Nun hat Salvador Sobral inzwischen ein neues, fremdes Herz eingebaut bekommen, die Analogie zu den Percebes ist eklatant, die haben freundlicherweise kein Herz, ihr Hohlkopf kann demnach ohne Skrupel gegessen werden, der andere hat ein Transitherz, damit er weiterleben kann.
Und jetzt kommt noch die Nachricht, dass sich Portugals Wirtschaft nach bleiernen Jahren der Rezession kräftig erholt hat und ein bemerkenswerter Aufschwung stattfand, die Neuverschuldung des Haushalts ist so niedrig wie schon lange nicht mehr, und die Arbeitslosigkeit ist auf einen Tiefststand zurückgegangen, man muss das alles nicht in einem Zusammenhang sehen, aber man kann es, und umso wohler fühlt sich der Gast in diesem Land bei derartigen auf logistische Größe ausgerichteten Veranstaltungen, wenn das Prahlen und die Materialschlacht augenscheinlich Auslaufmodelle sind und propagandistische Angeberei peinlich ist, wie das 2012 noch in Aserbaidschan so schmerzhaft sichtbar war, als das Land den Song Contest ausrichtete und eine überdimensionierte Arena bauen musste, wozu ein ganzes Stadtviertel geschleift wurde, und vermutlich wird sich Russland bei der Fußballweltmeisterschaft nicht anders verhalten. Aber man kickt ja gegen einen Ball, nicht gegen ein Herz.