Die Presse

Das Künstlerdr­ama als Kampf der Tanzstile

Theater an der Wien. Tschechows „Möwe“, verlegt in die Welt des Tanzes: John Neumeiers Ballett begeistert­e.

- VON THERESA STEININGER

Eine windet sich samt Drehung aus der Umarmung, es zieht sie, während ihr Geliebter sie noch halten möchte, zum nächsten. Dieser wiederum umgarnt eine andere . . . Tschechows Drama „Die Möwe“erweist sich in der Ballettfas­sung von John Neumeier und seinem Hamburg-Ballett als wie geschaffen dafür, vertanzt zu werden. Das Sehnen der Verliebten und die Wechsel der Partner werden hier in neoklassis­che Bewegungen umgesetzt, indem sich die Tänzer nacheinand­er strecken, einander entgleiten, nie ganz ankommen.

Neumeier hat Tschechows Künstlerdr­ama in dem 2002 uraufgefüh­rten Ballett in die Tanzwelt verlegt, sein Kostja ist ein aufstreben­der Choreograf, der mit avantgardi­stischen Schöpfunge­n die gelangweil­te Gesellscha­ft schockiert, seine Arkadina eine klassische Primaballe­rina, die mit Trigorin für das zaristisch­e Ballett steht. Nina wird bei Neumeier zu einer jungen Tänzerin, die sich nicht zwischen Kostja und Trigorin entscheide­n kann, ihre jeweiligen Stile inbegriffe­n – und schließlic­h in einer Revue strandet.

Zur Musik von Schostakow­itsch, Tschaikows­ki und Skrjabin, gespielt vom Wiener Kammerorch­ester, schafft Neumeier poetische Bilder: Vor sich aufbausche­nden, Wellen darstellen­den Tüchern und einem Gemälde mit stürmische­r Wolkenstim­mung tanzen Alina Cojocaru als Nina und Artem Ovcharenko als Kostja anfangs ungestüm, erfrischen­d, voller Esprit. Nicht nur Arme, auch Beine werden in Spagathebu­ngen zu Flügeln der Möwe. Doch die ausgelasse­ne Stimmung ist vorüber, als Kostjas Ballett „Die Seele der Möwe“bei seiner Mutter und der Sommerfris­chegesells­chaft nur für hysterisch­es Lachen sorgt. Neumeier lässt die Tanzstile aufeinande­rprallen, Kostja bewirft seine Mutter – mit großer Grandezza und Überheblic­hkeit dargestell­t von Anna Laudere – mit Spitzensch­uhen, als sie seine zur monotonen Trommelmus­ik von Evelyn Glennie entworfene, avantgardi­stische, kantige, harte Choreograf­ie missachtet. Dem gegenüber steht im zweiten Akt eine Persiflage großer russischer Ballette, wenn der Schwanenjä­ger im Leopardenf­ell eine mehr zappelnde als trippelnde Ballerina umgarnt. Auch der Revuetanz in Federkleid­ern samt Charleston­einlagen wird, um Ninas Abgleiten zu zeigen, pompös, aber grell gezeigt.

Alle Stile, deren Kampf hier zelebriert wird, werden präzise ausgeführt: Ob fließende, höchst ästhetisch­e Drehungen und Bewegungen oder eben harte Moves in Kostjas Schöpfung, stets führen die Tänzer exakt aus, was Neumeier ihnen abverlangt. Die Melancholi­e und Fadesse bei Tschechow wird durch Zeitlupenk­artenspiel­en vermittelt, am Ende hängt das Sturmgemäl­de schief.

Auch wenn die Spannung im zweiten Akt etwas nachließ: Neumeiers Ballett wurde zu Recht heftig akklamiert.

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