Die Presse

Die Gewöhnung an den türkischen Unrechtsst­aat

Die türkischen Behörden nehmen noch immer laufend Verdächtig­e fest. Der Nutznießer bleibt – vor allem im laufenden Wahlkampf – Präsident Erdo˘gan.

- E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

D as Wort der Stunde lautete „tamam“. Als sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ vergangene Woche zu den ungewöhnli­chen Sätzen hinreißen ließ, er und seine Regierungs­partei AKP würden sich zurückzieh­en, sobald die Bevölkerun­g „tamam“sage, war der rasche Fortlauf dieses Wortes in den sozialen Medien nicht mehr aufzuhalte­n. „Tamam“steht zwar für „in Ordnung“, aber auch für „es ist genug“, und in diesem Sinn überflutet­e die Erdogan-˘skeptische Hälfte des Landes gewohnt humorig bis gallig das Internet mit dieser Aufforderu­ng. Allein eine Million Tweets waren es vergangene­n Dienstag. Eine Gruppe Aktivisten formierte nachts „tamam“mit Teelichter­n mitten auf dem Gehweg, ein Imbissverk­äufer schrieb das Wort mit Gurken- und Käsescheib­en auf seine Arbeitspla­tte. Versehentl­ich lieferte Erdogan˘ der Opposition eine Steilvorla­ge für den laufenden Wahlkampf. Die säkular-kemalistis­che CHP überlegt gar laut, „tamam“offiziell als Wahlspruch zu nutzen.

Freilich ließ eine Gegenkampa­gne nicht lange auf sich warten. Tatsächlic­h aber sind die sozialen Netzwerke für die AKP vernachläs­sigbar, gilt doch die überwältig­ende Mehrheit der Medien in der Türkei als der Regierung nahestehen­d. Nur die Opposition und Regierungs­kritiker können sich hauptsächl­ich über das freie Internet Gehör verschaffe­n. Aber mit Twitter lassen sich eben keine Wahlen gewinnen, da hat Ankaras Regierungs­sprecher Bekir Bozdag˘ schon recht. Ginge es allein nach den sozialen Medien, wäre die AKP spätestens mit der Niederschl­agung der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 passe.´

Im laufenden Wahlkampf – Erdogan˘ hat die Parlaments- und Präsidente­nwahlen um mehr als ein Jahr, auf den 24. Juni, vorgezogen – ist der AKP in den meisten Tageszeitu­ngen und, noch wichtiger, TVSendern, eine starke und positive Berichters­tattung sicher. Die Regierungs­partei hat den Wahlkampf unter diesen ungleichen Voraussetz­ungen perfektion­iert. Darüber hinaus hat die Regierung ein Konjunktur­paket angekündig­t, das die straucheln­de Wirtschaft auffangen soll. Als langjährig­er Regierungs­chef hat Erdogan˘ ohnehin einen Startvorte­il. Aus diesen und mehreren anderen Gründen wird der neue Präsident der Türkei aus heutiger Sicht so heißen wie der alte: Recep Tayyip Erdogan.˘

D ie Popularitä­t des Präsidente­n hat auch der gescheiter­te Putsch im Juli 2016 gefestigt, es war eine Zäsur in der jüngeren türkischen Geschichte. Fast zwei Jahre ist die blutige Nacht schon her, und noch immer verhaftet die Justiz mutmaßlich­e Putschiste­n, sprich: Anhänger des islamische­n Predigers Fethullah Gülen, Kurden, Opposition­elle, Kritiker, Journalist­en, Akademiker. In den vergangene­n Tagen nahmen die Behörden 65 Verdächtig­e innerhalb der Luftwaffe fest, kurze Zeit später 150 Soldaten. Meldungen dieser Art sind in den vergangene­n zwei Jahren nie abgerissen, im Gegenteil, sie wurden zu einem Selbstläuf­er. Kaum jemand nimmt mehr Notiz davon, dass fast täglich irgendwo zwischen Istanbul und Ararat Razzien stattfinde­n.

Es ist eine Berichters­tattungsmü­digkeit eingetrete­n, die nur der türkischen Regierung nützt, da sie in Ruhe weitermach­en kann. Dabei muss sich die AKP den Vorwurf, unliebsame Querulante­n zu beseitigen, mehr denn je gefallen lassen: Seit zwei Jahren wird ermittelt und verhaftet, aber wissen wir mehr über den Putsch? Nein. Wissen wir mehr über die Drahtziehe­r? Nein. Haben wir mehr Beweise gesehen? Nein.

Und wie immer stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Gemeinscha­ft außerhalb der Türkei auf die AKP einwirken kann. Die Antwort hat die türkische Regierung jüngst selbst gegeben. Die Zankerei im vergangene­n Jahr zwischen mehreren europäisch­en Staaten und Ankara um Auftritte türkischer Minister hat nun dazu geführt, dass Erdogan˘ seinen „ausländisc­hen“Wahlkampf auf Länder wie Bosnien und Herzegowin­a verlegt hat – einen Ort mit überschaub­arer Präsenz türkischer Staatsbürg­er. Länder wie Deutschlan­d und die Niederland­e haben somit der AKP unmissvers­tändlich vermittelt, was geht – und was nicht. Und der Partei bleibt dieser Tage nichts anderes übrig, als sich daran zu halten.

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VON DUYGU ÖZKAN

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