Beethovens Utopie im Musikverein: Mehr laut als intensiv
Klassik. Die Neunte Symphonie reichte Andris Nelsons, dem Wiener Singverein und den Wiener Philharmonikern als einziger Programmpunkt. Einzelne großartige Momente standen vielen unentschlossenen, lauen Stellen gegenüber. Dennoch gab es großen Jubel.
Wer hörte, spielte oder sänge sich schon satt an Beethoven? Gerade erst hat Philippe Jordan alle neun Symphonien mit den Wiener Symphonikern in Musikverein und Konzerthaus erarbeitet und auch aufgenommen; ab 24. Mai gastiert das Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst im Goldenen Saal, um sie und noch mehr seiner Werke unter dem Titel „Prometheus-Projekt“zu präsentieren – und nun fanden auch die Wiener Philharmoniker und der viel beschäftigte Andris Nelsons Zeit, ihre gemeinsamen Beethoven-Erkundungen mit der Neunten fortzusetzen.
Die beste Nachricht zuerst: Der Wiener Singverein hat deren Frohbotschaft wieder einmal prachtvoll und mitreißend geschmettert. Zu danken ist dies nicht zuletzt der Einstudierung von Johannes Prinz, es wirkt jedoch an diesem Vormittag auch wie die natürliche Folge des geradezu umstürzlerischen Aufrufs, mit dem der Basssolist die Symphonie plötzlich zum Vokalstück weitet: Wenn Georg Zeppenfeld nach dem zweiten Ausbruch der Schreckensfanfare mit der ganzen Autorität seiner voluminös-geschmeidigen Stimme „angenehmere“, „freudenvollere“Töne einfordert, dann kann man diesem Rädelsführer des Guten, Wahren und Schönen nur mit Inbrunst folgen. „Alle Menschen werden Brüder“, lässt Beethoven mit Schillers Worten ekstatisch ausrufen – zumindest dann, wenn die Ressource „Freude“gerecht verteilt ist. Wir vernehmen es in einer Zeit, in der es zwar der Menschheit als Ganzes besser geht als je zuvor, in der sich aber zugleich immer mehr Leute ihre „Brüder“immer restriktiver aussuchen wollen.
Hilfsmittel für das Unbequeme
Wie kann man für diese Töne heute den richtigen Tonfall finden? Reicht es, der Partitur einfach möglichst gewissenhaft zu folgen? Oder sind längst Hilfsmittel nötig, um das Unerhörte und sogar Unbequeme an dem Stück vernehmbar zu machen? In Berlin zum Beispiel haben sich jüngst zwei Dirigenten erheblich darüber den Kopf zerbrochen, wie denn die Patina von der altbekannten Utopie zu kratzen wäre. Vladimir Jurowski schob, wie schon seinerzeit Michael Gielen, Arnold Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“kühn direkt zwischen Adagio und Finale ein: der Einbruch finsterster Unmenschlichkeit vor dem Hohelied des Humanismus. Jurowskis Kollege Ivan´ Fischer schickte Beethoven Musik von Toru¯ Takemitsu voraus und mischte danach den Chor unauffällig im Parkett unters Publikum: Das gab zwar einen homogenen Klang preis, aber vermittelte wohl eine elektrisierende Ahnung dessen, was 1824 unter Beethovens gestikulierender Leitung im Großen Redoutensaal zu erleben gewesen sein muss, wo der Chor auf gleicher Ebene mit den Hörern postiert war.
Aktuell in Wien, wo der Musikverein nach der Kündigung der Zusammenarbeit durch die Festwochen ein eigenes „Musikverein-Festival“ausgerufen hat, reicht Nelsons und den Philharmonikern die Neunte als einziger Programmpunkt. Er begreift diesen Beethoven als eine Art Proto-Bruckner: monumental und auch breit, wenn schon nicht in den Tempi selbst, so doch oft in der Artikulation. Staccato oder Keile, ganz egal, das Orchester schwelgt in sattem Wohlklang. Diesen genießt Nelsons mehr, als ihn zu strukturieren und zu dosieren. Trotz mittlerweile ruhigerer Zeichengebung glaubt man ihm das heiße Herz ja gern – aber nur, weil es durchgehend im Fortissimo für die Musik schlagen mag, sollte das nicht bedeuten, dass lauter immer besser wäre.
Vieles an notwendiger Differenzierung, ob nun in den instrumentalen Sätzen oder in den Jubelklängen des Finales, ging dabei über Bord. Merkwürdig außerdem, wie oft das Zusammenspiel wackelte – und manchmal auch die Intonation. Einzelne großartige Momente – das donnernde „vor Gott“etwa oder die Bratschen beim „Ihr stürzt nieder“– standen vielen unentschlossenen, lauen Stellen gegenüber. Pech auch, dass Klaus Florian Vogt offenbar einen schlechten Vormittag hatte, er beim berüchtigten Tenorsolo nervös zu eilen begann, ihm sogar ein Ton wegblieb. Camilla Nylund (als Einspringerin für Krist¯ıne Opolais) schlug sich trotz unsteter Tongebung wacker in der heiklen Sopranpartie, und Gerhild Romberger war tadellos als Alt. Genug für großen Jubel.