Die Presse

Hier ist der ESC-Knopf

In Lissabon verlor zum Schluss der Stil, das Anderssein gewann.

- VON TEX RUBINOWITZ NOTIZEN VOM SONG CONTEST E-Mails an: kultur@diepresse.com

Am Ende bekommt das Akronym für den Eurovision Song Contest wieder die Bedeutung zurück, die es das restliche Jahr hat: ESC für escape. Man war dem Spektakel entkommen, ohne Schäden an Körper und Geist. Die Nerven wurden kurz vor Schluss noch einmal sehr strapazier­t, aber das ist gut so, es trainiert das Immunsyste­m für vergleichb­are Situatione­n. Also, der ESC ist vorbei, die Siegerin kommt, wie zu erwarten war, aus Israel, Netta Barzilai performte mit ihrem Hühnergesc­hrei und einer Armee aus Winkekatze­n souverän, ihre selbstbewu­sste | MeToo-Botschaft war jedem sofort klar, und der Refrain saß hartnäckig im Ohr. In ihrer ersten Reaktion nach dem Sieg rief sie kämpferisc­h: „Danke, dass ihr das Anderssein gewählt habt! Danke, dass ihr die Vielfalt gefeiert habt!“Und vielleicht war das auch eine direkte Antwort auf die negative Aussage des Vorjahress­iegers, Salvador Sobral, der im Vorfeld Nettas Song bei YouTube angeklickt hatte und entsetzt war: „es war etwas Schrecklic­hes“, aber die nette Netta steht darüber, sie habe nur Liebe für Salvador und die Musik aller Stile übrig, sagte sie, als sie die Trophäe, ein gläsernes Mikrofon, von ihm überreicht bekam.

Und Cesar´ Sampson, der Will Smith aus Linz? Wurde er zerrieben zwischen europäisch­er Jurygunst und der des Publikums? Ein Freund aus Linz schickte in der Nacht der Entscheidu­ng per SMS folgendes Dramolett:

Taxifahrer: „No, i vastöh des ned.“– Gast: „Aber wo schreibt man hin, wenn man sich beschweren will?“– Taxifahrer: „Schreims an Europa.“

Wie weit das Schrille und Grelle und, nun ja, Populistis­che von Netta und die introspekt­ive Attitüde des Mannes mit Secondhand-Sakko und Secondhand­Herz entfernt war, zeigte sich in der Pause zwischen den Performanc­es der Teilnehmer und dem großen Punktebaza­r danach, als nämlich Sobral noch einmal sein Siegeslied „Amar pelos dois“sang, und zwar in Begleitung von keinem Geringeren als Caetano Veloso aus Brasilien, einem der einflussre­ichsten Bossa-NovaSänger, und im Pressezent­rum, vollgestop­ft mit etwa 1000 schwulen und ein paar weniger schwulen Berichters­tattern aus ganz Europa und darüber hinaus, passierte etwas Seltsames, nachdem bei jedem Lied der Wettbewerb­skandidate­n atemlose Stille herrschte, Sprechen gar verboten war, setzte beim Duo Sobral/Veloso plötzlich ein Schnattern wie in einem Ententeich ein, kein Mensch interessie­rte, was da gerade an sichtbar gemachter Stille passierte.

Der Stil verlor, und später wurde Portugal mit einem ebenso introspekt­iven Lied auch noch mit dem letzten Platz bedacht. Da merkt man dann, das ist das Leben, und das Leben geht weiter. Und hier ist der ESC-Knopf.

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