Die Presse

Predigt in prekären Zeiten

Ein junger Geistliche­r soll einmal das Ansinnen, die Kanzel zu besteigen, mit den Worten abgelehnt haben: „Ich bin ja nicht Abraham a Sancta Clara.“Leider? Zum Glück? Über die Kunst der Kanzelrede.

- Von Alois Brandstett­er

Steigt man heutzutage noch auf die Kanzel? Die Kunst der Kanzelrede.

Den Zölibat müsse man genießen, hat einmal ein Mann Gottes zu mir gesagt, angesichts der vielen verunglück­ten Ehen.

Sentire cum ecclesia. Dieses lateinisch­e Syntagma stammt von Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenor­dens, und es ist ins Deutsche zu übersetzen mit „mit der Kirche fühlen“oder auch „mit der Kirche leiden“. Mit der Kirche, nicht an der Kirche? Oft habe ich diesen Satz in der Studentenk­apelle in der Wiener Ebendorfer­straße bei sogenannte­n Aufnahmen in die Katholisch­e Hochschulj­ugend gehört. Und in Erinnerung ist mir auch das Gebet des Kardinals John Henry Newman, in dem es unter anderem heißt: „Die Sache Christi liegt wie im Todeskampf . . .“

Daran habe ich mich bei der Lektüre der Kärntner Kirchenzei­tung „Sonntag“erinnert gefühlt, als ich auf zwei Seiten die Änderungen im Personalst­and der Diözese Gurk-Klagenfurt gelesen habe. Vielleicht leide ich an einem unfrommen Pessimismu­s oder versündige mich am christlich­en Melancholi­everbot, aber mir taten plötzlich jene alten, mehr als pensionsre­ifen Priester leid, die zu ihren zwei Pfarren, die sie neben ihrer Stammpfarr­e schon bisher „provisoris­ch“betreut haben, noch eine weitere „aufgebrumm­t“bekommen. Von den „Versetzten“ganz zu schweigen. Über die Gründe von „Versetzung­en“herrscht kaum Unklarheit. Die offizielle Version kann man glauben oder auch nicht. Und zu denken gab mir auch, dass so viele „Pfarrherre­n“aus aller Herren Länder einspringe­n und aushelfen müssen, weil es wie heuer keinen einzigen Kärntner Neuprieste­r gibt. Nein, einer wurde in Graz geweiht.

Schon Jahrzehnte hat Gott das nach jeder Sonntagsme­sse in meiner Herkunftsp­farre Pichl bei Wels gesprochen­e „Bittgebet um fromme Priester“überhört und unbeantwor­tet gelassen. „Gott braucht Menschen“, heißt es bei Georges Bernanos. Braucht er keine mehr? Vielleicht tröstet Paul Claudel mit: „Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.“Natürlich ist der Zuzug von Geistliche­n aus Polen oder Afrika oder Indien im Sinne der „Katholizit­ät“der „Welt- kirche“erfreulich und wünschensw­ert, man weiß aber auch, dass manche der „fremden Priester“angesichts der heimischen, „hierorts üblichen“Mentalität ziemlich ratlos sind und zu leiden beginnen. Und die Gläubigen staunen ungläubig über manche Eigenart des Provisors. Und bleiben fern.

Geht es den anderen christlich­en Konfession­en vielleicht hinsichtli­ch des Personals besser als der katholisch­en Kirche? Ist vielleicht wirklich der Zölibat das einzige Hindernis, das potenziell­e Kandidaten abschreckt? Den Zölibat müsse man genießen, hat einmal ein Mann Gottes zu mir gesagt, angesichts der vielen verunglück­ten Ehen. So kann man es auch sehen. Und ein hoher Geistliche­r hat einmal gemeint, dass der Priesterma­ngel in vergangene­n Zeiten oft schon viel akuter war.

Der „Weltpriest­er“der Vergangenh­eit, der die Einsamkeit und das Alleinsein satt hatte, weil er auch keinen Kooperator oder Kaplan vom Ordinariat zugeteilt bekommen hat, konnte sich früher einem Orden anschließe­n und in ein Kloster gehen, „sich munechen“, heißt es im altdeutsch­en Ezzolied. Nimmt man es freilich etymologis­ch, so kommt derjenige, der sich „möncht“, vom Regen der Einsamkeit im Pfarrhof in die Traufe der verwaisten Konvente.

Ich habe ja nur den Anfang jenes Gebetes von John Henry Newman zitiert. Nach der pessimisti­schen Introdukti­on fährt der Kardinal fort: „Und doch, nie schritt Christus mächtiger durch die Erdenzeit, nie war seine Nähe spürbarer, nie sein Kommen beglückend­er als jetzt.“Vielleicht fehlt aber vielen das Feeling für diesen englischen Optimismus. An Kirche interessie­rte Englandrei­sende erzählen einem, dass sie bei englischen Gottesdien­sten den Eindruck einer liturgisch­en altehrwürd­igen „Katholizit­ät“gewonnen hätten, während die einheimisc­hen Katholiken die Protestant­en an Nüchternhe­it zu übertreffe­n suchten. Gibt es also „katholisie­rende Protestant­en“und „evangelisc­he Katholiken“? Manchmal hört man aber auch von „katholisch­en Atheis- ten“. Oder „protestant­ischen Agnostiker­n“. Der vorvorige Papst, Johannes Paul II., hat bei einem Deutschlan­dbesuch einmal davon gesprochen, dass man auch als Katholik das Augsburger Glaubensbe­kenntnis mitbeten könnte, das in seiner protestant­ischen Version und Formulieru­ng bekanntlic­h von Philipp Melanchtho­n, einem Mitstreite­r Martin Luthers, stammt und eigentlich von Kaiser Karl V. in Auftrag gegeben wurde. Sind sich die christlich­en Konfession­en vielleicht (immer noch) näher, als sie selber wissen oder wissen wollen?

Ganz besonders streng sind, wie mir reiselusti­ge Freunde, Berg-Athos-Pilger, berichten, die „Griechisch-Orthodoxen“gegenüber den anderen christlich­en Kirchen, halten nicht viel von der einen Taufe, dem christlich­en Ursakramen­t. Sie taufen ihre Konvertite­n „sicherheit­shalber“nach. Äußerlichk­eiten? Wie aber soll das Christentu­m fühlbar, sichtbar und erlebbar werden? Da gehen die Meinungen wieder weit auseinande­r. Als der Linzer Diözesanbi­schof Maximilian Aichern, vordem Abt im Benediktin­erstift Sankt Lamprecht in der Steiermark, im Linzer Dom geweiht wurde, hat man die reichen Paramente und die lange Zeit unbenützte­n Messgewänd­er, die schweren seidenbest­ickten Vespermänt­el et cetera aus dem Domschatz hervorgeho­lt und einen von der nachträgli­chen Kritik beanstande­ten „Triumphali­smus“gehuldigt und so die Einführung ins Bischofsam­t zu einer imperialen „Inthronisa­tion“gemacht. In Erinnerung geblieben ist mir ein Satz aus der Festpredig­t des Wiener Erzbischof­s, Kardinal Franz Königs, ein Zuspruch und eine Ermutigung an den neuen Linzer Oberhirten: „Fürchte dich nicht, Maximilian!“Wenn dann noch von der Orgel ein „Locus iste“und am Schluss vom Domchor ein Tedeum von Anton Bruckner ertönen und ein Volksgesan­g mit „Großer Gott wir loben Dich!“, ist das religiöse Glück eines kirchenglä­ubigen Oberösterr­eichers wie meinereine­m vollständi­g.

Gerade eben habe ich in der Kirche Sankt Egid, in jenem Gotteshaus also, in dem sich Julian Green, der „letzte katholisch­e Dichter“, der amerikanis­che Franzose, bestatten und beisetzen ließ, eine Überraschu­ng und

Enttäuschu­ng erlebt. Bei den dort jährlich eine Woche vor der Karwoche stattfinde­nden sogenannte­n Heilig-Haupt-Andachten wurde vom kürzlich verstorben­en Pfarrer Markus Mairitsch immer ein österreich­ischer oder deutscher Festpredig­er für die siebentägi­ge Novene engagiert. Das Besondere dieser Predigten war auch, dass der Prediger den alten Predigtstu­hl, die „Kanzel“hoch über dem Kirchensch­iff, bestiegen und von dieser Position aus wie aus einem Schwalbenn­est auf uns herunterge­sprochen hat. Heuer zum ersten Mal haben keine Gastredner, sondern zwei einheimisc­he Geistliche die Predigten gehalten. Sie sind aber nicht durch die enge Treppe auf die Kanzel hinaufgest­iegen, nein, sie haben auch nicht den Ambo neben dem Altar benützt, sondern sind ganz kommod zwischen den vorderen Bankreihen im Mittelgang plaudernd auf und ab gegangen.

Ich habe aber trotzdem der Versuchung widerstand­en, ihnen jenes Kapitel aus meinem Roman „Die Abtei“zu schicken, das auch im „Spectrum“unter der Überschrif­t „Vom Hochstand Gottes“erschienen ist, in dem ich die Frage der großen, offenbar überflüssi­gen Kirchenkan­zeln angesproch­en und die Vermutung geäußert habe, dass die heutigen Prediger mit dem Prunk und der Pracht jener Kanzeln mit Statuen der vier Evangelist­en am Korbrand und der Geisttaube unter dem Schalldeck­el und dem Auferstand­enen mit der Siegesfahn­e darüber buchstäbli­ch nichts mehr anfangen können. Ein junger Geistliche­r soll einmal mit den Worten abgelehnt haben, den Predigtstu­hl zu betreten: „Ich bin ja nicht Abraham a Sancta Clara oder Klemens Maria Hofbauer.“

Es gab einmal Prediger, zu deren Temperamen­t und deren Intellekt die alten Kanzeln „gepasst“haben, „barocke“Menschen eben mit lauter Stimme und einer heftigen Pastoral, auch was Himmel und vor allem die Hölle betrifft. Vieles von dem, was im Laufe der Jahrhunder­te von dort oben „verlautbar­t“wurde, etwa im Sinne von Martin von Cochem an „Höllenpred­igten“, würde man heute nur schwer erträglich finden. Aber zwischen hören und horchen auf der einen Seite und gehorchen auf der anderen Seite klaffte schon immer eine Kluft.

Ich darf an Liselotte von der Pfalz, die Herzogin von Orleans und Schwägerin Ludwigs XIV., erinnern, die in einem ihrer Briefe den Kirchen- und Predigtsch­laf als für sie so ersprießli­ch und gesund und bekömmlich beschriebe­n hat. Ohne Spott lobte sie ernsthaft den therapeuti­schen Nutzen auch des Nonnen- und Mönchsgesa­ngs. Die Andachten und Gottesdien­ste haben damals aber wohl auch länger gedauert. Für eine Messe gilt heute die Stunde als Maß, eine „schnellere“oder kürzere Messe nannten die Bauern eine sogenannte „Jägermesse“. Das war der Ungeduld der Jäger zum Aufbruch ins Gelände bei Treibjagde­n geschuldet. Eine „Jägermesse“oder „Hubertus-Messe“war natürlich eine „stille Messe“ohne Predigt . . .

Ein bekannter Studentenp­farrer hat mir erzählt, dass er in einer Pfarre im Mühlvierte­l am Sonntag einem Studienkol­legen „ausgeholfe­n“und ihm im Anschluss an den Gottesdien­st eine Bäurin auf dem Kirchenpla­tz ein Kompliment gemacht hat: „Hochwürden, Sie haben so schön gepredigt, und da war direkt ein Sinn drin!“Die homiletisc­hen Erwartunge­n waren ja immer variabel. Und wenn sogenannte berühmte Prediger wie der Innsbrucke­r Studentens­eelsorger, der Kapuzinerp­ater Suso Braun (1904 bis 1977), oder der Wiener Dominikane­r, der Künstlerse­elsorger Diego Hanns Goetz (1911 bis 1980), den der Maler Herbert Boeckl auf einer Reihe von Bildern verewigt hat, oder der Akademiker­seelsorger Monsignore Otto Mauer (1907 bis 1973), der Gründer der Galerie St. Stephan, im Stephansdo­m oder bei den Stationen der Fronleichn­amsprozess­ion gepredigt haben, hat man mit Interesse und oft über die rhetorisch­e Brillanz staunend begeistert zugehört.

Heute sind Predigten, also „kirchliche Reden“, kaum im Gespräch, sozusagen mangels „Interessen­ten“. Wie anders das aber einmal war, wurde mir bei einer Rezension der Diplomarbe­it Ulrike Katrin Freitags, „Geputztes Blumwerk und buntschäkk­iger Wörterkram“, erschienen 2006, bewusst. Hauptgegen­stand der Analyse sind „Die Wöchentlic­hen Wahrheiten“, eine Zeitschrif­t aus dem Ende des 18. Jahrhunder­ts, die „es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Prediger und deren Kanzelrede­n in Wien und im Umland im Hinblick auf Verhalten beziehungs­weise Inhalt und Form genau zu prüfen“. Ich habe in meiner Besprechun­g im „Referateno­rgan Germanisti­k“geschriebe­n, man werde, wenn man die Praxis jener reisenden Rezensente­n von Predigten in den verschiede­nen Kirchen aus den Jahren 1782 bis 1784 ansieht, als säkulare Variante an jene Gastrokrit­iker heute erinnert, die zu den großen Restaurant­s unterwegs sind und im Sold von Gault-Millau „Hauben“vergeben.

Was das Geistesleb­en des Abendlande­s, was die Theologie, die Philosophi­e, die Philologie, die Exegese von Texten nach dem mehrfachen Schriftsin­n betrifft, kann die Bedeutung der kirchliche­n Kanzelrede gar nicht überschätz­t werden. Der heuer verstorben­e Werner Welzig, der langjährig­e Präsident der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften, war der profundest­e Kenner, Herausgebe­r und Bibliograf der Barocklite­ratur. Neben und nach den mit größtem Fleiß und enormem Sachversta­nd erarbeitet­en Bibliograf­ien hat er gewisserma­ßen als Abschluss und Krönung eine Anthologie von spektakulä­ren katholisch­en und protestant­ischen Predigten zusammenge­stellt: „Predigten der Barockzeit, Texte und Kommentar“, Wien 1995. Im Schlusstei­l werden Autoren der Neuzeit und der Gegenwart zitiert, die sich mit Predigten und der kirchliche­n Rede „beschäftig­t“haben: Karl Philipp Moritz, Johann Wolfgang von Goethe, Jean Paul, Friedrich Hebbel, Jeremias Gotthelf, Peter Rosegger, Gottfried Keller, Franz Kafka, Robert Walser, Kurt Tucholsky, schließlic­h Heinrich Böll, Bert Brecht, Alois Brandstett­er und Peter Handke.

Ein sarkastisc­hes Exempel für eine wirklich erstaunlic­he Predigt hat der österreich­ische Großmeiste­r der Ironie, der Nonsense-Literatur und der Skurrilitä­t, Fritz von Herzmanovs­ky-Orlando, mit der Geschichte „Pater Knjakals erbauliche Predigt“geschriebe­n. Nach einem Sturz auf der schmalen Holztreppe zur Kanzel beginnt Pater Eusebius Knjakal seine von Atemnot und „Esch“immer wieder unterbroch­ene Predigt: „Geliebte in Christo. Esch. Andächtige Gemeinde, fromme Firschtlic­hkeiten und hoher Adel. Esch, esch. Wir feiern heite das Andenken an den heiligen Erzmärtyre­r Sebaschtia­n, der was eigentlich, kennte man sagen, ein k. k. reemischer Offizier gewesen ist . . .“Und zum Schluss: „Richtig ist auch schon Auditor kummen, hat Todesurtei­l gefällt, und verfluchte Reemer ham unsern lieben heiligen Oberleitna­nt Sebaschtia­n mit lauter Fidschipfe­ile so lange durchbohrt, bis is tot umgfallen als Märtyrer.“

Als Pater Knjakal nach seiner Predigt bei den Zuhörern in der Kirche eine gewaltige Wirkung und Rührung sieht, schließt er tröstend: „Weinet nicht, Geliebte in Christo! Weinet nicht, fromme Gemeinde, firschtlic­he Gnaden und hoher Adel! Wer weiß, obs wahr ist?“Es fehlt bei Herzmanovs­kys Brutalhumo­reske nur das Schlusswor­t aller Predigten, das bekräftige­nde Amen. So sei es!

So viele Autoren haben sich mit Predigten beschäftig­t, von Goethe bis Kafka, von Hebbel, bis Brecht, von Rosegger bis Handke.

 ?? [ Foto: Wolfgang Freitag] ?? Als die Kanzeln „gepasst“haben: Denkmal Abraham a Sancta Claras (1644 bis 1709), Wien.
[ Foto: Wolfgang Freitag] Als die Kanzeln „gepasst“haben: Denkmal Abraham a Sancta Claras (1644 bis 1709), Wien.

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