Jeder Satz wie ein Zeppelin
Arbeitslosigkeit, Aufkommen neuer rechter Bewegungen, Geschlechterproblematik, Flüchtlingsströme: Themen wie damals und genug Gründe, Stücke von Ödön von Horvath´ hier und heute aufzuführen. Zum 80. Todestag eines Meisters der Dialogkunst.
Ödön von Horvath´ ist seit achtzig Jahren tot. Und seit fünfzig Jahren nun schon werden seine Stücke auf deutschsprachigen Bühnen hinauf und hinunter gespielt. Egal, ob gerade gesellschaftspolitische Emanzipationsbewegungen im Schwange sind oder autoritative Vorstellungen im Kommen. Egal, ob wirtschaftliche Konjunkturen herrschen oder Krisen, stets gibt es Gründe, warum Dramen wie „Geschichten aus dem Wiener Wald“oder „Kasimir und Karoline“brandaktuell sind. Halten wir inmitten dieser unablässigen Erfolgsgeschichte einen kurzen Moment inne, und fragen wir uns: Warum ist das eigentlich so?
Gründe werden im Produktionsprozess sichtbar, so wie ihn die historisch-kritische Horvath-´Ausgabe beschreibt. Gerade zu seinen großen Volksstücken hat der Autor einen sehr langen werkgenetischen Anlauf genommen und über mehrere Jahre daran gearbeitet.
Den thematischen Ansatzpunkt bot ihm ein spezifisches Konzept des gefallenen „Fräuleins“. In frühen Entwürfen finden sich diese jungen Frauen, die allesamt auf die schiefe Bahn (und das heißt bei Horvath:´ ins Rotlichtmilieu) geraten, noch in den Fängen von Männern, die auch parteipolitisch ziemlich eindeutig punziert sind. Einer dieser alten Knacker heißt recht plakativ „Schminke“und ist Journalist. Ein anderer steht als Gewerkschaftsfunktionär der KPD nahe. Dass die „Rettung“, die das Fräulein von Typen wie diesen beispielsweise vor organisierten Frauenschlepperbanden erfährt, auf genau das Gleiche spekuliert, was auch jene zum Ziel hatten, macht Horvath´ schon in seinen frühesten Skizzen deutlich.
Stets ist es der Körper der Frau, den die Männer als Lohn für ihre Bemühungen erwarten. Egal, ob sie dabei vordringlich von merkantilen Interessen, einem vorgeschützten Humanismus, einer politischen Ideologie, Gerechtigkeitsfantasien oder „wahrer“Liebe geleitet sind. Die „wahre“Liebe ist bei Horvath´ ohnehin immer nur unter Anführungszeichen zu haben. Der windige Alfred aus den „Geschichten aus dem Wiener Wald“bringt es auf den universellen Punkt: „Eine rein menschliche Beziehung wird erst dann echt, wenn man was voneinander hat.“
Wir befinden uns am Ende der Weimarer Republik, als Horvath´ an Sätzen wie diesen feilt. Und der Autor feilt lange an seinen Sätzen. So lange, bis sie in ihrer ganzen Konstruiertheit nur noch wie nebenbei hingesagt wirken. Aber nichts, was die Figuren sagen, ist nur so nebenbei hingesagt, und es ist bei Horvath´ auch nichts nur so nebenbei hingeschrieben.
Karoline sagt, als sie mit ihrem Galan Rauch auf dem Oktoberfest vor dem Pferdekarussell steht: „Wenn ich einmal reit, möcht ich aber gleich zweimal reiten.“Rauch daraufhin: „Auch dreimal!“In den Werkmaterialien zu „Kasimir und Karoline“zeigt sich, dass Horvath´ alle möglichen Zahlen durchprobiert hat, nach dem Muster: Wenn ich jetzt dreimal reit, reit ich gleich viermal. Wenn ich jetzt zweimal reit, reit ich gleich dreimal. Auch viermal, mein Fräulein, wenn es beliebt.
Von „Reiterei“und „Zündkerzen“
Letztlich geht es immer nur um eine einzige Reiterei. Die mit der Frau, zu der es aber nicht kommt, weil die „Zündkerzen“der alten Herren letztlich doch weniger gut funktionieren als die ihrer „feudalen Kabrioletts“, mit denen sie die Mädls nach Altötting fahren. In dem Augenblick, in dem es am Körper der Frau zum Moment der Wahrheit kommen soll, macht sich in „Kasimir und Karoline“die Kaufkraft der Männer lächerlich, und in den „Geschichten aus dem Wiener Wald“scheitert an diesem Körper der autoritäre Charakter, zumindest teilweise (dazu unten mehr).
Bemerkenswert ist, dass Horvath´ diese eigentliche und überzeitliche Politik seiner Texte genau daraus gewinnt, dass er im Laufe des Produktionsprozesses Tages- und Parteipolitik fast vollständig aus dem Text nimmt. Am Ende gibt es in diesen Stücken allzu plakative Erscheinungen wie einen Herrn Schminke, dem die Falschheit im Namen steckt, nicht mehr. Auch der Bezug zu aktuellen politischen Diskursen ist nahezu getilgt.
Von einem Antisemitismus, wie man ihn vom Stammtisch oder von der Straße her kennt oder heute aus den sozialen Medien, bleibt in der Figurenrede von „Kasimir und Karoline“nichts übrig. Am Ende verkrümelt sich der Hass auf die Juden in eine einzige Passage, kommt dabei aber umso wirkungs-
voller zur Geltung. Wieder geht es um das Reiten, und wieder geht es um die Frau: Rauch: Ich gratuliere! Speer: Sie sind talentiert. Das sage ich Ihnen als alter Ulan. Karoline: Ich dachte, der Herr wär ein Richter.
Speer: Haben Sie schon mal einen Richter gesehen, der kein Offizier war? Ich nicht! Rauch: Es gibt schon einige – Speer: Juden! Karoline: Also nur keine Politik bitte! Speer: Das ist doch keine Politik! Rauch: Ein politisch Lied ein garstig Lied – (er prostet mit Karoline) Auf unseren nächsten Ritt!“
Vor dem Körper der Frau verordnet sich der politische Diskurs der Männer eine Auszeit. Dieser Körper aber markiert deren Rede noch im Verstummen. Etwas, das selbst nicht Politik, aber höchst politisch ist, wird der Politik entgegengesetzt. Eines der besten Beispiele dafür bietet im Gesamtwerk Horvaths´ der Neffe des Zauberkönigs, Erich aus Kassel. Ein junger, militärisch auftretender Mann, Prototyp nicht allein des deutschen Faschisten. Im Ensemble der Wiener Figuren wirkt der „entfernte Verwandte“meist nur lächerlich. In kleinen politischen Streitgesprächen stinkt er mangels Witz und Schlagfertigkeit selbst noch gegen den alten, im Ausgedinge befindlichen k. u. k. Rittmeister ab. Vollends ins Hintertreffen aber geraten er und die Körperübungen, die er mit sich selbst bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit veranstaltet, gegenüber der Trafikantin Valerie, die ihn für einige Zeit zu ihrem Geliebten macht.
Von dem Roman „Der ewige Spießer“über „Italienische Nacht“bis hin zu den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ist genau das eine der entscheidenden politischen Grundsituationen bei Horvath.´ Der Faschist verheddert sich, wenn er versucht, individuell zu sein, und das heißt hier: eine Frau zu kriegen, aussichtslos in seinem eigenen sexuellen Begehren.
Erstaunlich ist, dass Horvath´ die Körperpanzer, die der autoritäre Charakter trägt, und die Zurichtungen, die der Faschismus an ihm fordert, schon zu einem Zeitpunkt erkannt hat, als die Masseninsze- nierungen des faschistischen Körpers noch gar nicht Realität geworden waren. Franz Schuh hat neulich in einer Podiumsdiskussion darauf hingewiesen, man müsse sich vor Augen halten, dass Horvath´ in seiner Analyse dieses Körpers nicht auf Theweleit aufbauen konnte. Um 1930 gab es noch nicht einmal die Quellen, die der deutsche Literaturwissenschaftler in seinen wegweisenden „Männerfantasien“(1978/79) zusammengestellt hat.
Frisch hat sich Horvath´ seit seiner Wiederentdeckung Ende der 1960er-Jahre bis heute insgesamt viel weniger aufgrund der Themen gehalten, die er in seinen Stücken anschneidet, sondern aufgrund der Form, in der er mit diesen Themen umgeht. Arbeitslosigkeit, Aufkommen neuer rechter Bewegungen, Geschlechterproblematik, Flüchtlingsströme (einen starken Bezug dazu gibt es in Horvaths´ Spätwerk) bieten freilich immer wieder einen Anlass, Stücke von Horvath´ gerade jetzt, hier und heute zu spielen. Mit dem Roman „Jugend ohne Gott“hat sich der Autor zudem im Schulunterricht festgesetzt.
Auch hier ist, obzwar in einem ungleich ungünstigeren Umfeld, die Prognose gut. Denn „Jugend ohne Gott“wird wohl eines der letzten literarischen Werke sein, die man aufgrund von Prioritäten, die man heute jenseits der Literatur für bedeutsam hält, aus dem Unterricht verbannt. Zu gut passt dieses Buch in den Rahmen: über einen Deutschlehrer, der Widerstand leistet. Auch er, nicht nur ein Typus der Vergangenheit, sondern wohl auch einer der Zukunft.
Die Art und Weise, wie Horvath´ seine Sätze gedrechselt hat, halten sie aktuell. Besonders im Bereich der sogenannten zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt sich die ganze Dialogkunst des Autors. An einem Vergleich früherer und späterer Varianten wird zudem deutlich, wie sehr Horvath´ Passagen, in denen Mann und Frau miteinander reden, insbesondere auch gegenüber den Möglichkeiten therapeutischer Intervention abgeschottet hat. Verfangen in der Wortkunst, die die Figuren konstituiert, ist an Kasimir und Karoline nichts zu therapieren. Keine „Wunderübung“(Daniel Glattauer) könnte den beiden in ihrer gesellschaftlichen und eben nicht individuellen Verfasstheit helfen. Auch die Kommunikation klappt in Horvath-´Stücken prächtig. Nichts wird verschwiegen. Alles, was gesagt werden kann, zeigt sich.
Von fremden Antrieben geleitet?
Horvath´ verhandelt heutige Probleme: Wie gehen die Menschen miteinander um? In welche Phrasen kleiden sie sich, wenn sie bestialisch werden, melancholisch oder einfach nur geil? Welche Masken tragen sie? Haben wir überhaupt noch innere Wertvorstellungen, nach denen wir handeln? Sind wir am Ende alle nur zirkulierende Waren in einer konsumistisch geprägten Welt? Und heutige Männer und Frauen vielleicht gerade darin den damaligen Fräuleins gleich? Von fremden Antrieben geleitet? Und nur ganz dünn an der Oberfläche mit Bildungszucker bestreut?
Jedenfalls sind es nicht die „kleinen Leute“, die Horvath´ auf die Bühne stellt. Was könnte uns an kleinen Leuten, die doch immer nur die anderen wären und niemals wir selbst, auch schon so brennend interessieren? Schon damals, als Horvath´ schrieb, waren es heutige Menschen, die er aus einer Sprache der Zeitgenossenschaft heraus gebaut hat.
In einer der besten Horvath-´Inszenierungen, die ich jemals gesehen habe, stellte Christoph Marthaler Momente aus „Kasimir und Karoline“auf die Bühne, in denen urplötzlich klar wird, was genau hier Ensemble und Publikum gemeinsam haben. Marthaler wählt dazu einen recht simplen Weg und nimmt einfach die zahlreichen „Stillen“ernst, die Horvath´ zwischen die einzelnen Mikroszenen des Stückes gesetzt hat. Kasimir und Karoline nehmen sich in dieser Inszenierung reichlich Zeit für solche Unterbrechungen und schauen den schrägen Sätzen, die sie soeben zueinander gesagt hatten, in den Publikumsbereich hinein nach. Wie ein zweiter Kronleuchter hingen die Sätze im Raum. Publikum und Schauspieler betrachteten sie. Ganz so, als ob ein jeder Satz selbst ein Zeppelin wäre. Diese Horvath-´Sätze: Sie werden noch ein gutes Stückchen weiterfliegen.
Anlässlich des 80. Todestages Ödön von Horvaths´ präsentiert das Literaturhaus Graz am 4. Juni, 19 Uhr, die Collage „Leben heißt Kurven nehmen“. Es lesen Julia Gräfner, Benedikt Greiner und Rudi Widerhofer. Einführung: Klaus Kastberger.