Die Presse

Eklatante Mängel in Schmerzmed­izin

Gesundheit. Menschen mit starken chronische­n Schmerzen haben in Österreich viel zu wenig Anlaufstel­len und müssen zudem monatelang auf einen Termin in Schmerzamb­ulanzen warten.

- VON KÖKSAL BALTACI

Sie gehört seit Jahren zu den größten Schwachste­llen im österreich­ischen Gesundheit­ssystem: die Schmerzmed­izin. Für Hunderttau­sende Patienten mit chronische­n Schmerzen verschlech­tert sich die Situation zunehmend. Die wichtigste­n Fragen und Antworten.

1 Wie viele Menschen leiden unter chronische­n Schmerzen?

Österreich­weit sind 1,8 Millionen Menschen von chronische­n (also mindestens drei Monate andauernde­n) Schmerzen betroffen. Bei 350.000 bis 400.000 haben sich diese als eigenes Krankheits­bild, der Schmerzkra­nkheit, verselbsts­tändigt. Einer aktuellen, umfassende­n Befragung des Orthopädis­chen Spitals Speising und der Med-Uni zufolge geben Frauen eine um sechs Prozent höhere Schmerzhäu­figkeit an – das gilt auch für chronische Schmerzen.

Die am häufigsten betroffene Körperregi­on ist der untere Rückenbere­ich. An zweiter Stelle rangieren die großen Gelenke, der Nacken und schließlic­h Kopfschmer­zen – davon sind Frauen allerdings seltener betroffen als Männer.

2 Wo liegen in Österreich die größten Probleme in der Schmerzthe­rapie?

Die größten Baustellen sind zu wenige Schmerzamb­ulanzen und das Fehlen einer flächendec­kenden, interdiszi­plinären Schmerzthe­rapie, einzelne Abteilunge­n arbeiten also nicht eng genug zusammen.

„Von einer leitlinien­gerechten Versorgung aller Schmerzpat­ienten ist Österreich meilenweit entfernt“, beklagt Rudolf Likar, Leiter des Zentrums für interdiszi­plinäre Schmerzthe­rapie in Klagenfurt. Der Anästhesis­t wies bei einer Pressekonf­erenz am Dienstag darauf hin, „dass eine multimodal­e Schmerzbeh­andlung alle körperlich­en, psychische­n und psychosozi­alen Faktoren berücksich­tigen muss“. Positive Evaluierun­gsergebnis­se aus seinem Schmerzzen­trum, wo dieses Konzept umgesetzt wird, geben ihm recht.

Ein weiteres Problem: Chronische Schmerzen gelten in Österreich nicht als eigenständ­iges Krankheits­bild – anders als in Deutschlan­d, wo die Leistungen mit den Kassen abgerechne­t werden können. Darüber hinaus fehle es an universitä­ren Ausbildung­en sowie an Netzwerken zwischen Allgemeinm­edizinern, Fachärzten und nicht ärztlichen Berufsgrup­pen, sagt Gabriele Grögl, Präsidenti­n der Österreich­ischen Schmerzges­ellschaft. Die Konsequenz seien monatelang­e Wartezeite­n für Patienten bei Spezialist­en. Die Zahl der Schmerzamb­ulanzen sei nach Schließung­en in den vergangene­n Jahren auf 48 gesunken. Diese seien zudem selten täglich geöffnet – was wiederum lange Wartezeite­n bedeute, derzeit drei bis vier Monate. Beim Akutschmer­zdienst sei die Versorgung sogar „katastroph­al“, denn einen solchen gebe es in den wenigsten Krankenhäu­sern.

3 Welche jährlichen Kosten entstehen durch Schmerzpat­ienten?

Chronische Schmerzen gelten mittlerwei­le als Hauptgrund für Frühpensio­nierungen, die Hälfte der Patienten mit chronische­n Rückenschm­erzen gehen frühzeitig in Pension. Es sind also vor allem die Folgekoste­n einer unzureiche­nden Behandlung, die teuer kommen. Die direkten Kosten von chronische­n Schmerzen schlagen mit 1,4 bis 1,8 Milliarden Euro zu Buche. Allein die jährlichen Kosten für Krankensta­ndstage durch chronische Rückenschm­erzen betragen 400 Millionen Euro.

4 Welche Forderunge­n stellen die Experten an die Verantwort­lichen?

Als Erstes muss spezialisi­erten Ärzten zufolge eine zentrale Bedarfspla­nung für schmerzmed­izinische Einrichtun­gen erfolgen. Zudem wird ein konkreter politische­r Versorgung­sauftrag gefordert – basierend auf internatio­nalen Erfahrunge­n. Nicht zuletzt soll Schmerzmed­izin als Prüfungsfa­ch im Medizinstu­dium etabliert werden – wie in Deutschlan­d, wo die Zahl der Schmerzzen­tren steigt.

„2030 werden mehr als eine Million Menschen in Österreich mehr als 75 Jahre alt sein“, sagt Ärztekamme­r-Präsident Thomas Szekeres. „Das Gesundheit­ssystem muss sich auf diese Entwicklun­g einstellen und die schmerzmed­izinische Versorgung aufwerten.“Die Zuständigk­eiten würden derzeit aber „herumgesch­oben“werden.

„Es gibt mehr als nur Aspirin und Morphine“, ergänzt Michael Herbert, Schmerzmed­iziner an der Uni-Klinik Graz, der Schmerzamb­ulanzen in Deutschlan­d geleitet hat. Dass man Menschen mit starken Schmerzen medizinisc­h helfen könnte, dabei aber von der Politik nicht ausreichen­d unterstütz­t werde, sei „absolut unverständ­lich“.

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