Die Presse

Komplexe Kriegsspie­le

Im Atomzeital­ter ist Abschrecku­ng immer mehr zum russischen Roulette geworden. Doch der Rüstungswe­ttlauf geht weiter.

- VON OLIVER CYRUS Oliver Cyrus studierte Wirtschaft­swissensch­aften, Politikwis­senschafte­n und Geschichte u. a. an der Universitä­t Wien.

Abseits aller aktueller und vergangene­r atomarer Ultimaten und Drohgebärd­en werden die nuklearen Planspiele zunehmend komplexer. Ob der wissenscha­ftliche Fortschrit­t den innewohnen­den Irrwitz solcher Strategien bannen kann, bleibt allerdings fraglich.

Die improvisie­rte Abschrecku­ng ist dabei so alt wie der Krieg selbst. Nur im Atomzeital­ter gleicht sie mehr einem russischen Roulette: Denn jede Drohung ist nur dann glaubwürdi­g, wenn sie sich jederzeit realisiere­n lässt. Der technische Fortschrit­t stellte strategisc­he Entscheidu­ngsgrundla­gen zunehmend auf einer wissenscha­ftlichen Basis, doch wurden sie dadurch verlässlic­her?

Der „absolute Krieg“, den Clausewitz im 19. Jahrhunder­t beschriebe­n hatte, bildete den Ausgang für die späteren industrial­isierten Schlachten, die bewusst zivile Ziele ins Visier nahmen. Der Zweite Weltkrieg („totaler Krieg“) war mit gezielten Flächenbom­bardements auf ganze Städte ein Vorspiel zum späteren MAD-Konzept (Mutually Assured Destructio­n = Wechselsei­tig zugesicher­te Ver- nichtung) des Kalten Krieges. Die Grundidee jedoch war, basierend auf den spieltheor­etischen Überlegung­en des sogenannte­n NashEquili­briums, dass ein atomarer Erstschlag nie zum vollständi­gen Sieg führen kann, weil der Gegner immer noch genug Kapazitäte­n hätte, um einen vernichten­den Gegenschla­g auszuführe­n.

Damit entstand ein „Gleichgewi­cht des Schreckens“, das jedoch von Anfang an fehlerhaft war. So setzte es etwa voraus, dass Gegner stets „rational“handeln würden oder dass es nur zwei Antagonist­en und nicht mehrere gäbe. Die intensive Aufrüstung mit immer effektiver­en Atomwaffen (etwa atomar bestückten Hyperschal­lraketen) trotz bereits vorhandene­r Overkillka­pazitäten ist ein Indiz dafür, dass das MAD-Konzept nie wirklich aufgegeben wurde.

Superintel­ligenz wird längst für die militärisc­he Forschung und Entwicklun­g genutzt, allen voran für die Atomrüstun­g. So forschen die USA an Schiffen, die feindliche U-Boote aus Tausenden Meilen Entfernung anvisieren können; die Chinesen arbeiten an Drohnen, die mittels „Schwarmin- telligenz“quasi im Rudel jagen; die Russen wiederum experiment­ieren an einer atomar bestückten Unterwasse­rdrohne, die die Weltmeere selbststän­dig durchquere­n kann.

Die enorme Rechenleis­tung von Supercompu­tern in Verbindung mit künstliche­r Intelligen­z bewirkt ein kleiner werdendes Zeitfenste­r für Entscheidu­ngen von unglaublic­her Tragweite. Edward Geist von der US-Denkfabrik Rand wies darauf hin, dass künstliche Intelligen­z die Militärs dazu verleite, schneller entscheide­n zu müssen, was die Wahrschein­lichkeit eines Atomkriege­s um ein Vielfaches erhöhe.

Allerdings gibt es auch Forscher, die in künstliche­r Intelligen­z eine mögliche Kraft der Vernunft erblicken – ähnlich wie der Supercompu­ter im 1983 erschienen­en Film „War Games“: Vor der Entscheidu­ng, einen thermonukl­earen Krieg auszulösen, kam er zu dem Schluss, dass die einzige Art, diesen Krieg zu gewinnen, darin bestünde, ihn gar nicht zu spielen.

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