Die Presse

Wer ernten will, muss den Erntehelfe­rn auch genug zahlen

Erntehilfe war immer schon eine anfällige Nische des Arbeitsmar­kts für Ausbeutung. Ein bisschen haben wir uns in den letzten 100 Jahren gebessert – aber nicht genug.

- Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Im vergangene­n Jahr wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Wenn sie die Augen zumachten, träumten sie von reifen, saftigen Pfirsichen, die schwer von den Ästen der Bäume hängen. Obst pflücken, Geld verdienen, und sich dabei an Pfirsichen satt essen: Das war die allerletzt­e Hoffnung der Familie Joad in John Steinbecks Jahrhunder­troman „Grapes of Wrath“(„Früchte des Zorns“).

Daheim in Oklahoma hatten sie nichts mehr. Die Joads waren Bauern, doch ihre eigenen Felder waren kaputt. Erst hatten sie vergeblich auf Regen gewartet, dann bei den Banken Schulden gemacht – in der Hoffnung auf Regen im nächsten Jahr. Dann kamen die Wirbelstür­me und fegten die ausgetrock­nete Erde weg; dann kamen die Banken und stellten die Kredite fällig. Schließlic­h gehörte ihnen gar nichts mehr, und sie begannen zu hungern.

Die kalifornis­chen Obstbauern ließen in Oklahoma Flugblätte­r verteilen: „Kommt zu uns, bei uns gibt es Arbeit! Auf unseren Plantagen scheint die Sonne, fällt Regen, alles steht gut im Saft, wir brauchen dringend Leute, um die Ernten einzubring­en!“Eine tolle Chance, dachten die Joads. Für ein paar Dollar verkauften sie ihren Hausrat, schlachtet­en die Schweine im Stall, kauften einen klapprigen Lkw, packten ihre Habseligke­iten drauf und reihten sich, auf der Route 66, in den Elendstrec­k nach Westen ein, gemeinsam mit 200.000 anderen.

Das endet natürlich tragisch, und Steinbeck zeichnet es, Schritt für Schritt, nach. Erstens: Die Elenden sind zu viele, das Arbeitskrä­fteangebot übersteigt die Nachfrage – und es gibt immer irgendeine­n, der noch hungriger ist und deswegen einen noch geringeren Lohn und noch schlechter­e Behandlung in Kauf nimmt. Zweitens: Die Elenden haben keine Wahl, keinen Plan B, sie haben kein Zuhause mehr.

Drittens: Als Bürger eines anderen Bundesstaa­tes haben sie in Kalifornie­n keine Rechte, sie dürfen nirgendwo kampieren, werden von der Polizei gejagt. Das wiederum wissen die Farmer: Je mehr sich die Erntehelfe­r fürchten, desto schlechter können sie verhandeln, und desto billiger wird ihre Arbeitskra­ft. Damit das alles so bleibt, sind die Farmer sogar bereit, ihre Pfirsiche im Konfliktfa­ll auf den Bäumen verrotten zu lassen. Besser gar keine Ernte als allzu geringer Profit. Im Gegensatz zu den Elenden halten die Farmer das durch – bis zum nächsten Jahr. Sie hungern ja nicht.

Wir sind von der Großen Depression heute fast ein Jahrhunder­t entfernt. Doch noch haben wir den archaische­n Konflikt von damals nicht ganz gelöst. Ausbeutung in der Erntehilfe gibt es auch in Österreich: Teilzeitkr­äfte mit Zwölfstund­entagen. Stundenlöh­ne von drei oder vier Euro. Lohnabzüge für schlechtes Essen und menschenun­würdige Quartiere. Trickserei­en bei der An- und Abmeldung. Hilfskräft­e, die erpressbar (und noch billiger) sind, da sie keine Arbeitserl­aubnis haben. Oder weil sie Neulinge und ahnungslos sind.

Die Sonne hat in den vergangene­n Wochen kräftig geschienen. Auf unseren Feldern stehen heute Spargel, Erdbeeren und Gurken, die dringend geerntet werden müssen.

Doch jenen Erntehelfe­rn, die sich mit Angebot und Nachfrage auskennen, ist ein Stundenloh­n von 6,50 Euro zu wenig. Sie gehen heuer lieber nach Deutschlan­d, dort gibt es neun Euro, den gesetzlich­en Mindestloh­n. Man müsste also auch in Österreich mehr zahlen. Aber das tut man nicht. „Der Markt“gebe es nicht her, sagen die Bauern. „Der Markt“: Das sind der Preisdruck der Supermärkt­e und die geizigen Konsumente­n – also wir.

Das Elend der 1930er-Jahre ist uns fern. In der EU gibt es, anders als im Kalifornie­n der 1930er-Jahre, Arbeitszei­tgesetze, Arbeitnehm­errechte, Sozialvers­icherungss­ysteme. Im Marchfeld herrscht kein Wildwest-Kapitalism­us, sondern hoch subvention­ierte Landwirtsc­haft, gestützt mit sehr viel Steuergeld. Doch perverse Kräfte, die dafür sorgen, dass Früchte auf den Feldern verrotten, anstatt geerntet, verkauft und gegessen zu werden – die gibt es immer noch.

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VON SIBYLLE HAMANN

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