Verrat und Verzeihen
Die aus der DDR geflüchteten Eltern von Philipp leben im Westen dann getrennt voneinander und doch untergründig miteinander verbunden. „Ein schönes Paar“: Gert Loschütz’ großer Roman über Sehnsucht und Unglück.
Es gibt Bücher, bei denen man sich nach jeder ruhigen Minute sehnt, um fieberhaft und wie in Trance in ihnen weiterzukommen, und gleichzeitig das Ende hinauszögern will, weil man alles, was in ihnen geschrieben steht, für schön und wahr erachtet. Gert Loschütz’ neuer Roman mit dem fast anstößig belanglosen Titel „Ein schönes Paar“ist ein seltener Fall dieser Art Literatur und sein Autor einer der bedeutendsten und zugleich am meisten unterschätzten zeitgenössischen Schriftsteller.
Das war nicht immer so; Loschütz, Jahrgang 1946, geboren in Sachsen-Anhalt, hat seit Mitte der 1960er-Jahre viel beachtete Erzählungen, Romane, Essays, auch Gedichte, Theaterstücke und Hörspiele veröffentlicht, er war Verlagslektor in Berlin, dann Dramaturg in Frankfurt am Main und stand mit allerlei Kritikern und Redakteurinnen in Verbindung, die seine Qualitäten wohl erkannten, aber längst weggestorben, eingespart oder durch Jungtüchtige ersetzt worden sind, die Literatur nach dem Maß ihrer Ellbogen beurteilen.
Loschütz dagegen schraubte, je älter er wurde, die Anforderungen an sich selbst immer weiter nach oben; er wollte den Abstand zwischen dem, was ihm als Ziel seines Schreibens vorschwebte, und dem Ergebnis möglichst gering halten. Solch ein Vorsatz ist, wenn man ihn befolgt, mit erheblichem Zeitaufwand verbunden, auch mit Skrupeln, Schwächeanfällen, Selbstzweifeln, dem Gefühl von Vergeblichkeit. Das alles macht es einem unmöglich, alle zwei oder drei Jahre ein neues Werk vorzulegen, das dann gar noch, wie Loschütz’ 2005 erschienener Roman Roman „Dunkle Gesellschaft“, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises landete, also im Misthaufen, auf dem die Literaturhähne krähen.
Düstere Grundstimmung
So jedenfalls stelle ich mir Loschütz’ Karriere vor, ich habe den Autor bis auf eine unglücklich verlaufene Begegnung nicht wirklich kennengelernt, aber seine Bücher trotz ihrer traurigen, manchmal sogar düsteren Grundstimmung mit viel Freude und Gewinn gelesen; mit Gewinn auch deshalb, weil es unter den Lebenden kaum einen zweiten deutschen Schriftsteller gibt, der die Fähigkeit besitzt – und die Geduld aufbringt –, mit derart klaren, genauen Sätzen das Leben von Menschen darzustellen, die ohne andere hochfahrende Wünsche glücklich sein wollen. Eine Loschütz-Erzählung, die mir so bildhaft in Erinnerung geblieben ist, als hätte ich sie nicht gelesen, sondern mit- erlebt, handelt von einer jungen Frau, die sich endlich in einer eigenen Wohnung eingerichtet hat und nach dem Besuch ihrer Eltern, die mit verletzenden Nebensätzen oder stummen Blicken dies und jenes an ihr missbilligen, mit herzzerreißender Konsequenz die neu angeschaffte Sitzgarnitur aufschlitzt, auf die sie eben noch so stolz gewesen ist.
Und jetzt dieser Roman über den IchErzähler Philipp und seine Eltern, die getrennt voneinander – der Vater im Bungalow, die Mutter im Altersheim – in derselben hessischen Kleinstadt gelebt haben, in die sich die dreiköpfige Familie nach ihrer Flucht aus der DDR 1957 niedergelassen hatte. Nun sind die Eltern gestorben, zuerst der Vater, drei oder vier Wochen später die Mutter, und in die erzählte Gegenwart von Bestattung, Amtswegen und Auflösung des Hausstandes schiebt sich die Geschichte einer immensen Sehnsucht und einer ebenso großen Verstimmung über einen als Verrat verstandenen Liebesbeweis, die scheinbar keine Grenzen kennt und kein Verzeihen.
Das Geheimnis, hinter das der Erzähler erst gegen Ende des Romans kommt, liegt darin, dass seine Eltern, die jeden Kontakt zueinander abgebrochen hatten, auf Distanz – durch eine Dachluke hier, einen Vorhangspalt dort – einander verbunden geblieben waren, in stummer Zwiesprache, ohne einander zu sehen, aber im Bedürfnis, ihr Zerwürfnis und die Jahrzehnte danach zu überbrücken, in denen die Frau aus dem Leben von Vater und Sohn verschwunden blieb.
Zu rühmen ist nicht nur die hohe, von Deutungen und Kommentaren freie Aufmerksamkeit, die Loschütz seinen drei – oder wenn man Philipps Freundin Mila hinzurechnet: vier – Protagonisten erweist, sondern auch die kunstvolle Gestaltung des Romans, der jähe und doch unmerkliche Wechsel in Perspektive und Chronologie, die Genauigkeit der Beobachtungen und das Vermögen, sie in Worte zu fassen, knapp, ohne je umständlich zu erscheinen oder sich an Bilder, Metaphern, rhetorische Versatzstücke zu halten.
Ein Brief aus Westdeutschland
Und immer ist die gesellschaftliche Dimension dieser privaten Geschichte gegenwärtig, die eine deutsch-deutsche ebenso wie eine staatssozialistisch-kapitalistische ist, weil sie in einer anderen Kleinstadt, irgendwo zwischen Magdeburg und Brandenburg, beginnt und dort auch weitergegangen wäre und geendet hätte, wäre ein hinterhältiger Brief aus dem Bonner Verteidigungsministerium nicht gewesen und das vorhersehbare Misstrauen von Funktionären, das den Vater zwingt, heimlich abzuhauen, in den Westen, in dem – auch dies ist dem Roman zu entnehmen – die Lebensumstände für Normalsterbliche nicht viel anders, und nicht besser, waren als in der DDR. Vielleicht erscheint dem Leser die „Kanalstadt“im Osten sogar als lebenswerter als die „Schieferstadt“im Westen, weil sie der Ort war, an dem die Liebe begann.
Unweigerlich kommt einem bei der Lektüre Guntram Vesper in den Sinn. Auch Vesper ist 1957 mit seinen Eltern in den Westen gegangen, auch er ist in der hessischen Provinz aufgewachsen, auch seine stilistisch stupende Prosa kreist in der Auseinandersetzung um Enge und Aufbruch, Hoffnung und Unglück, Gegenwart und Geschichte um dieselbe Frage, die Loschütz umtreibt: „Was in uns steckt“, nämlich die aus der Sicht von Ausländern typische Eigenschaft von Deutschen, auf eine verhaltene Weise sehr grausam und nachtragend sein zu können.
Sogar die Dingsymbole hier wie da ähneln einander; war es in einer meisterhaften Erzählung Vespers eine Laterna Magica, die Bilder schattenhaft und verschwommen projiziert, so beginnt Loschütz’ Roman mit der Beschreibung der verblüffenden Wirkung eines Stereoskops. Dazu kommt, als zweites den Fortgang der Geschichte begleitendes Instrument, eine Exakta Varex, der einzige Wertgegenstand, den die Familie in den Westen mitnehmen konnte.
Als der Sohn in Ausübung seines Berufs viele Jahre später in romanischen Kirchen Aragons´ fotografiert, konzentriert er sich auf den winzigen Augenblick, in dem die Morgensonne durch die winzigen Fenster am Kopfende der Apsiden schießt. „Apsiden. Heute weiß ich, dass das Wort noch eine andere Bedeutung hat: Man bezeichnet damit auch den jeweiligen Punkt der kleinsten oder größten Entfernung eines Planeten vom Gestirn, das er umkreist.“Die der Liebenden voneinander.