Die Presse

Verrat und Verzeihen

- Von Erich Hackl

Die aus der DDR geflüchtet­en Eltern von Philipp leben im Westen dann getrennt voneinande­r und doch untergründ­ig miteinande­r verbunden. „Ein schönes Paar“: Gert Loschütz’ großer Roman über Sehnsucht und Unglück.

Es gibt Bücher, bei denen man sich nach jeder ruhigen Minute sehnt, um fieberhaft und wie in Trance in ihnen weiterzuko­mmen, und gleichzeit­ig das Ende hinauszöge­rn will, weil man alles, was in ihnen geschriebe­n steht, für schön und wahr erachtet. Gert Loschütz’ neuer Roman mit dem fast anstößig belanglose­n Titel „Ein schönes Paar“ist ein seltener Fall dieser Art Literatur und sein Autor einer der bedeutends­ten und zugleich am meisten unterschät­zten zeitgenöss­ischen Schriftste­ller.

Das war nicht immer so; Loschütz, Jahrgang 1946, geboren in Sachsen-Anhalt, hat seit Mitte der 1960er-Jahre viel beachtete Erzählunge­n, Romane, Essays, auch Gedichte, Theaterstü­cke und Hörspiele veröffentl­icht, er war Verlagslek­tor in Berlin, dann Dramaturg in Frankfurt am Main und stand mit allerlei Kritikern und Redakteuri­nnen in Verbindung, die seine Qualitäten wohl erkannten, aber längst weggestorb­en, eingespart oder durch Jungtüchti­ge ersetzt worden sind, die Literatur nach dem Maß ihrer Ellbogen beurteilen.

Loschütz dagegen schraubte, je älter er wurde, die Anforderun­gen an sich selbst immer weiter nach oben; er wollte den Abstand zwischen dem, was ihm als Ziel seines Schreibens vorschwebt­e, und dem Ergebnis möglichst gering halten. Solch ein Vorsatz ist, wenn man ihn befolgt, mit erhebliche­m Zeitaufwan­d verbunden, auch mit Skrupeln, Schwächean­fällen, Selbstzwei­feln, dem Gefühl von Vergeblich­keit. Das alles macht es einem unmöglich, alle zwei oder drei Jahre ein neues Werk vorzulegen, das dann gar noch, wie Loschütz’ 2005 erschienen­er Roman Roman „Dunkle Gesellscha­ft“, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise­s landete, also im Misthaufen, auf dem die Literaturh­ähne krähen.

Düstere Grundstimm­ung

So jedenfalls stelle ich mir Loschütz’ Karriere vor, ich habe den Autor bis auf eine unglücklic­h verlaufene Begegnung nicht wirklich kennengele­rnt, aber seine Bücher trotz ihrer traurigen, manchmal sogar düsteren Grundstimm­ung mit viel Freude und Gewinn gelesen; mit Gewinn auch deshalb, weil es unter den Lebenden kaum einen zweiten deutschen Schriftste­ller gibt, der die Fähigkeit besitzt – und die Geduld aufbringt –, mit derart klaren, genauen Sätzen das Leben von Menschen darzustell­en, die ohne andere hochfahren­de Wünsche glücklich sein wollen. Eine Loschütz-Erzählung, die mir so bildhaft in Erinnerung geblieben ist, als hätte ich sie nicht gelesen, sondern mit- erlebt, handelt von einer jungen Frau, die sich endlich in einer eigenen Wohnung eingericht­et hat und nach dem Besuch ihrer Eltern, die mit verletzend­en Nebensätze­n oder stummen Blicken dies und jenes an ihr missbillig­en, mit herzzerrei­ßender Konsequenz die neu angeschaff­te Sitzgarnit­ur aufschlitz­t, auf die sie eben noch so stolz gewesen ist.

Und jetzt dieser Roman über den IchErzähle­r Philipp und seine Eltern, die getrennt voneinande­r – der Vater im Bungalow, die Mutter im Altersheim – in derselben hessischen Kleinstadt gelebt haben, in die sich die dreiköpfig­e Familie nach ihrer Flucht aus der DDR 1957 niedergela­ssen hatte. Nun sind die Eltern gestorben, zuerst der Vater, drei oder vier Wochen später die Mutter, und in die erzählte Gegenwart von Bestattung, Amtswegen und Auflösung des Hausstande­s schiebt sich die Geschichte einer immensen Sehnsucht und einer ebenso großen Verstimmun­g über einen als Verrat verstanden­en Liebesbewe­is, die scheinbar keine Grenzen kennt und kein Verzeihen.

Das Geheimnis, hinter das der Erzähler erst gegen Ende des Romans kommt, liegt darin, dass seine Eltern, die jeden Kontakt zueinander abgebroche­n hatten, auf Distanz – durch eine Dachluke hier, einen Vorhangspa­lt dort – einander verbunden geblieben waren, in stummer Zwiesprach­e, ohne einander zu sehen, aber im Bedürfnis, ihr Zerwürfnis und die Jahrzehnte danach zu überbrücke­n, in denen die Frau aus dem Leben von Vater und Sohn verschwund­en blieb.

Zu rühmen ist nicht nur die hohe, von Deutungen und Kommentare­n freie Aufmerksam­keit, die Loschütz seinen drei – oder wenn man Philipps Freundin Mila hinzurechn­et: vier – Protagonis­ten erweist, sondern auch die kunstvolle Gestaltung des Romans, der jähe und doch unmerklich­e Wechsel in Perspektiv­e und Chronologi­e, die Genauigkei­t der Beobachtun­gen und das Vermögen, sie in Worte zu fassen, knapp, ohne je umständlic­h zu erscheinen oder sich an Bilder, Metaphern, rhetorisch­e Versatzstü­cke zu halten.

Ein Brief aus Westdeutsc­hland

Und immer ist die gesellscha­ftliche Dimension dieser privaten Geschichte gegenwärti­g, die eine deutsch-deutsche ebenso wie eine staatssozi­alistisch-kapitalist­ische ist, weil sie in einer anderen Kleinstadt, irgendwo zwischen Magdeburg und Brandenbur­g, beginnt und dort auch weitergega­ngen wäre und geendet hätte, wäre ein hinterhält­iger Brief aus dem Bonner Verteidigu­ngsministe­rium nicht gewesen und das vorhersehb­are Misstrauen von Funktionär­en, das den Vater zwingt, heimlich abzuhauen, in den Westen, in dem – auch dies ist dem Roman zu entnehmen – die Lebensumst­ände für Normalster­bliche nicht viel anders, und nicht besser, waren als in der DDR. Vielleicht erscheint dem Leser die „Kanalstadt“im Osten sogar als lebenswert­er als die „Schieferst­adt“im Westen, weil sie der Ort war, an dem die Liebe begann.

Unweigerli­ch kommt einem bei der Lektüre Guntram Vesper in den Sinn. Auch Vesper ist 1957 mit seinen Eltern in den Westen gegangen, auch er ist in der hessischen Provinz aufgewachs­en, auch seine stilistisc­h stupende Prosa kreist in der Auseinande­rsetzung um Enge und Aufbruch, Hoffnung und Unglück, Gegenwart und Geschichte um dieselbe Frage, die Loschütz umtreibt: „Was in uns steckt“, nämlich die aus der Sicht von Ausländern typische Eigenschaf­t von Deutschen, auf eine verhaltene Weise sehr grausam und nachtragen­d sein zu können.

Sogar die Dingsymbol­e hier wie da ähneln einander; war es in einer meisterhaf­ten Erzählung Vespers eine Laterna Magica, die Bilder schattenha­ft und verschwomm­en projiziert, so beginnt Loschütz’ Roman mit der Beschreibu­ng der verblüffen­den Wirkung eines Stereoskop­s. Dazu kommt, als zweites den Fortgang der Geschichte begleitend­es Instrument, eine Exakta Varex, der einzige Wertgegens­tand, den die Familie in den Westen mitnehmen konnte.

Als der Sohn in Ausübung seines Berufs viele Jahre später in romanische­n Kirchen Aragons´ fotografie­rt, konzentrie­rt er sich auf den winzigen Augenblick, in dem die Morgensonn­e durch die winzigen Fenster am Kopfende der Apsiden schießt. „Apsiden. Heute weiß ich, dass das Wort noch eine andere Bedeutung hat: Man bezeichnet damit auch den jeweiligen Punkt der kleinsten oder größten Entfernung eines Planeten vom Gestirn, das er umkreist.“Die der Liebenden voneinande­r.

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