Die Presse

Die agilen Alten Russlands

Pensionsre­form. Die geplante Verlängeru­ng des Erwerbsleb­ens ist unpopulär, doch das russische Staats-TV verbreitet positive Stimmung.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Die umstritten­e Pensionsre­form in Russland ist noch lange nicht beschlosse­n, doch schon gibt es die ersten Witze darüber. Es sind sehr trockene Witze. Einer geht so: Fragt der Enkel seinen klapprigen Großvater, der nach der neuen Ordnung mit 65 Jahren in Pension gegangen ist: „Warum habt ihr euch damals nicht gegen dieses ungerechte Gesetz gewehrt?“– „Haben wir doch“, entgegnet dieser. „Wir liefen auf die Straße und schrieen Goooooooaa­al!“

Die Fußball-WM, auf die sich auch der Witz bezieht, kann den Unmut über den Gesetzesvo­rschlag kaum abfedern. Laut den Plänen der Moskauer Regierung sollen Frauen künftig mit 63 Jahren und Männer mit 65 Jahren ihre Pension antreten – um acht Jahre später als derzeit. Zwar sind Übergangsf­risten für Frauen bis 2034 und Männer bis 2028 geplant, trotzdem sind die Veränderun­gen einschneid­end. Vor allem, wenn man die derzeitige Lebenserwa­rtung der Russen einkalkuli­ert: Sie liegt für Frauen bei 77,6 und für Männer gar nur bei 67,5 Jahren.

Die Regierung argumentie­rt, dass die Lebenserwa­rtung in den nächsten Jahren sukzessive steigen soll. Doch ob das auch wirklich eintritt, kann sie freilich nicht garantiere­n. Den Unterschri­ftensammle­rn und den angekündig­ten Protesten (darunter von Alexej Nawalny am 1. Juli) entgegnet man mit einer Aufklärung­skampagne auf typische Kreml-Art: Die staatliche­n Medien überschlag­en sich mit Berichten über die Vorteile des verlängert­en Erwerbsleb­ens.

So behauptet in der staatliche­n Nachrichte­nagentur Ria Nowosti etwa eine Psychologi­n, dass sich Menschen bei frühem Pensionsan­tritt schnell in „meckernde Alte“verwandeln würden, die mit nichts zufrieden seien, obwohl sie noch in der Blüte ihrer Jahre stünden. Dem Negativbil­d der Arbeitsver­weigerer wird der späte Pensionsan­tritt als Eintritt in ein erfülltes Alterslebe­n dargestell­t. Auch TV-Ideologe Dmitrij Kiseljow steuerte einen kreativen Gedanken bei: Die „sanfte“und „längst überfällig­e“Reform garantiere ein höheres Einkommen. Plötzlich ist das russische TV voll mit agilen, arbeitswil­ligen Alten – ein ungewohnte­r Anblick.

Die Stoßrichtu­ng ist klar: Die Gesellscha­ft wird eingestimm­t, Unmutspote­nzial erhoben. Und sollte die Reform schließlic­h sanfter ausfallen, als derzeit geplant, wird das kollektive Aufatmen zu spüren sein.

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