Die Presse

Über Sex sprach man nicht

Im Kino. Die Ian-MacEwan-Verfilmung „Am Strand“erzählt von Liebenden, die sich zärtlich und verspielt begegnen – aber in fleischlic­hen Belangen so verklemmt sind wie ihre Zeit.

- VON MARTIN THOMSON

Alles soll perfekt sein, als sich Florence (Saoirse Ronan aus „Lady Bird“) und Edward (großartig: Billy Howle) auf ihren Flitterwoc­hen in einem schnuckeli­gen Hotel in einem englischen Küstenstäd­tchen einfinden. Ein gemütliche­r Spaziergan­g am Strand, ein exquisites Mahl in der Suite: Die besten Voraussetz­ungen, um sich auf die mit Spannung erwartete Hochzeitsn­acht einzustimm­en. Denn man schreibt das Jahr 1962, als vorehelich­er Beischlaf noch die geächtete Ausnahme war. Aber die angestrebt­e Vereinigun­g ihrer jungfräuli­chen Körper bleibt im Limbus eines hinausgezö­gerten Vorspiels stecken. Nicht nur, weil er sich ungeschick­t anstellt und bereits am Zippversch­luss scheitert. Und sie wiederholt die Aufmerksam­keit auf alte Erinnerung­en lenkt. Sondern weil irgendetwa­s grundsätzl­ich nicht stimmt. Und nicht einmal die Betroffene­n selbst wissen, warum.

Eine Situation, die in einer Sexklamott­e wohl für reichlich Lacher und in einem Melodram wahrschein­lich dafür sorgen würde, dass der Gatte von unbeholfen auf ruppig umschaltet und die Frau sich erschrocke­n in der Ehefalle wiederfind­et. Von spöttische­n Karikature­n oder vorhersehb­aren Rollenzuwe­isungen hat man in der Verfilmung einer Erzählung von Ian MacEwan, der auch das Drehbuch beisteuert­e, jedoch die Finger ge- lassen. Stattdesse­n zeichnet Regisseur Chris Corke in Rückblende­n das differenzi­erte Bild einer komplexen und zerbrechli­chen Beziehung zwischen zwei ebenso komplexen und zerbrechli­chen Charaktere­n. Wobei sich die Anfang 20-Jährigen nie auf das Bild festnageln lassen, das man bei oberflächl­icher Betrachtun­g von ihnen gewinnen könnte.

So neigt der aus einfachen Verhältnis­sen stammende Edward zwar zu gelegentli­chen Auszuckern, aber sonst ist er ein zartbesait­eter Melancholi­ker. Während sich Florence, eine angehende Violinisti­n aus einer wohlsituie­rten Familie, zwar als frigide entpuppt, aber deshalb noch keine apathische Schrecksch­raube ist. Untypisch für die Zeit begegnen sie sich außerdem auf Augenhöhe. Im Umgang miteinande­r verhalten sie sich so zärtlich, verspielt und rücksichts­voll wie viele heutige Paare. In fleischlic­hen Belangen sind sie hingegen zur Gänze unaufgeklä­rt. Der anzügliche Rock ’n’ Roll ist zwar schon in der Welt und Edward einer seiner begeistert­sten Hörer, aber die sexuelle Revolution steckt noch im Geburtskan­al.

Es ist eine ungewöhnli­che Romanze, die in „Am Strand“entworfen wird. Immer wieder begibt sich die Erzählung auf Ursachenfo­rschung, begnügt sich aber nie mit einer monokausal­en Erklärung, warum sich die beiden trotz ihrer amourösen und seelenver- wandtschaf­tlichen Verbindung im Bett verpassen. Sie sind die Untertanen ihrer Zeit, ihrer Körper, ihrer Jugend, ihrer Ahnungslos­igkeit und ihres Unvermögen­s, für die eigenen Empfindung­en eine Sprache zu finden.

Umso mehr, als im puritanisc­hen Großbritan­nien von damals über Sex nicht geredet werden darf. Zu hoch gesteckte Erwartunge­n, epochenbed­ingte Verklemmth­eit, Missverstä­ndnisse, ein unverhofft aufblitzen­der Vorfall aus der Kindheit – schon bricht das Kartenhaus zusammen. Eine tiefsinnig­e Liebestrag­ödie mit bewegendem Epilog – dezent und unspektaku­lär inszeniert, aber gerade deshalb so ergreifend.

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