Glücklich einen Frühling lang
Die Szene wurde von einem der damalige Akteure, dem Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Cˇestm´ır Cisarˇ, in seinen Memoiren beschrieben: Mitten in die Sitzung des Parteipräsidiums im Prager Stadtzentrum, spätabends am 20. August 1968, das sich den Vorbereitungen für den kommenden Parteitag widmen sollte, platzte die Nachricht. „Wir waren alle schon sehr müde, als Cˇernik“– damals Ministerpräsident – „zum Telefon gerufen wurde, um uns mitzuteilen, dass die Armeen der fünf Warschauer Paktstaaten die Tschechoslowakei zu okkupieren begonnen hatten. Es vergingen Augenblicke, in denen alle schwiegen . . . Dann brach aus jedem hervor, was ihm gerade durch den Kopf ging.“
Alexander Dubcek,ˇ erster Sekretär der Partei und gleichsam die Verkörperung des menschlichen Antlitzes des Sozialismus, stammelte mit tränenerstickter Stimme, dass „sie das mir angetan haben“. Ihm, dem gläubigen Kommunisten, der in der Sowjetunion aufgewachsen war, sich im Zweiten Weltkrieg den slowakischen Partisanen angeschlossen und danach eine steile Parteikarriere hingelegt hatte, ihm, der an eine „Konterrevolution“nie auch nur gedacht hätte. Die Frage eines sozialistischen Sonderwegs der Tschechen und Slowaken war nach dem Einmarsch machtpolitisch entschieden, der Streit um seine Interpretation aber eröffnet. Zwar mutierte die in die Sowjetunion gewaltsam verschleppte Parteispitze mit Dubcekˇ an der Spitze in Moskau von Konterrevolutionären zu Verhandlungspartnern, doch kehrten sie, extremem politischem und psychischem Druck ausgesetzt, mit einer Kapitulationserklärung zurück, um jetzt die schmutzige Detailarbeit bei der Beendigung des Experiments selbst zu leisten.
Die neuen tschechischen Eliten hatten auch wegen dieses unwürdigen Abgesangs leichtes Spiel, als sie den Prager Frühling bereits kurz nach der „samtenen Revolution“vom November 1989 zum bloßen Streit zweier kommunistischer Fraktionen erklärten. Besonnenere wiesen auf die Unmöglichkeit des damaligen Versuches hin, Unvereinbares vereinbaren zu wollen – eine Interpretation, der sich die meisten der damaligen Protagonisten heute angeschlossen haben. Warfen sie noch 1968 den Sowjets vor, mit dem Einmarsch vor allem die Idee des Sozialismus diskreditiert zu haben, gestehen heute selbst linke Intellektuelle mit melancholischem Unterton ein, dass „Genosse“Breschnew so unrecht nicht hatte: Ein kommunistisches System, das sich zu demokratisieren versucht, ohne sich dabei selbst aufzugeben, sei unmöglich.
Will man das Experiment der Reform eines staatssozialistischen Systems von oben indes verstehen, so muss man den Blick weiter zurück in die Geschichte der Tschechoslowakei richten. Das Land hatte nach 1945 wie kaum ein anderes unter den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion die Voraussetzungen für den „Aufbau des Sozialismus“mitgebracht. Die Vertreibung von etwa drei Millionen Deutschen bot Land, Immobilien und Besitz zum Verteilen, die Industrie war gut ausgebaut und im Krieg kaum zerstört worden. Bei den noch halbwegs freien Parlamentswahlen 1946 wurde die KP mit 40 Prozent Stimmenanteil stärkste Partei in Böhmen und Mähren. Bereits vor dem Coup de Prague, der auf Geheiß Stalins im Februar 1948 die KPAlleinherrschaft installierte, waren große Teile der Wirtschaft „sozialisiert“(also verstaatlicht) worden, war die „Ausbeuterklasse“beseitigt, waren die Menschen in ihrer Mehrzahl für den „Sozialismus“, ob in nationaler, kommunistischer oder sozialdemokratischer Prägung. Dies resultierte bereits aus dem 19. Jahrhundert, als der Mythos von den die soziale Gleichheit liebenden Tschechen von der Generation der nationalen „Erwecker“im Kampf gegen die deutschen Feudalherren und Fabriksbesitzer geschaffen wurde (und wie jeder Mythos natürlich auch einen Teil an Wahrheit enthielt). Nur die tschechischen Katholiken und die Mehrzahl der Slowaken hielten dagegen.
Allerdings waren die tschechischen Kommunisten nicht mit dem Versprechen einer Kopie des stalinistischen Sowjetmodells populär geworden, sondern mit der Parole vom „eigenen Weg“zum Sozialismus. Umso größer war dann die Enttäuschung, als sich der prosperierende Indus- triestaat in den 1950ern in einen mit Stacheldraht eingezäunten Zulieferbetrieb für die Sowjetunion verwandelte. Der Lebensstandard der „Werktätigen“war nicht angestiegen, der Wohlstandsvorsprung sogar vor dem lange Zeit rückständigen Österreich verspielt. Dennoch war mit der neuen Verfassung von 1960 der „Sieg des Sozialismus“verkündet und die CˇSR zur CˇSSR geworden.
Die Unzufriedenheit ließ sich so nicht aufhalten, drang bald weit hinein in die Parteibasis und betraf vor allem nach 1945 gut ausgebildete, junge „Kader“der KP. Es waren die 1930er-Jahrgänge, die, im Krieg zu überzeugten Kommunisten geworden, danach ihre Vorstellungen und Karrieren meist rücksichtslos gegenüber ihren Gegenspielern aus dem „reaktionären“Lager durchgesetzt hatten und die jetzt erkennen mussten, wie fatal das Land gegenüber dem Westen in Rückstand geraten war.
Anstelle des proklamierten Aufbaus des Kommunismus stellte sich eine tiefe Wirtschaftskrise ein, die sogar zum Abbruch des laufenden Fünfjahresplanes führte. Dies ermöglichte es einem Team rund um den Ökonomen Ota Sik,ˇ bereits in den frühen 1960ern die theoretischen Grundlagen für eine umfassende Wirtschaftsreform zu erarbeiten. Ausgangspunkt war die Berücksichtigung von „Interessensgegensätzen“zwischen den Teilnehmern am Produktionsund Verteilungsprozess. Sikˇ wollte diese durch die Einführung von verschämt „WareGeld-Beziehung“genannten Marktmechanismen austarieren.
Er brach dabei zwar nicht semantisch, aber doch de facto ein Tabu der orthodoxen marxistischen Lehre, nämlich das der Interessensharmonie der Teilnehmer am wirtschaftlichen Prozess nach der Aufhebung von Marktwirtschaft und Privateigentum. Daneben sahen seine Pläne auch die Einführung leistungsstimulierender Löhne sowie die Beteiligung der Mitarbeiter an den Betrieben, die bisher nur theoretisch ihnen (wie allen anderen Werktätigen), de facto aber dem Staat gehört hatten, vor. Ein weiteres Axiom des Marxismus wurde indes über den Umweg einer neuen Rezeption des gebürtigen Pragers Franz Kafka infrage gestellt, die bei einer Konferenz im mittelböhmischen Schloss Liblice ihren Ausgang nahm, organisiert von den kommunistischen Intellektuellen Paul (Pavel) Reiman und Eduard Goldstücker. Aus dem von der offiziellen Lehre als dekadent-zersetzend gebrandmarkten Literaten wurde ein legitimer Kritiker der Entfremdung in den industrialisierten Gesellschaften des Westens wie des Ostens. Diese Ausdehnung der bisher nur dem Kapitalismus zugeschriebenen Entfremdung war ein Tabubruch. Und dies, wenngleich Goldstücker den sozialistischen Gesellschaften zugestand, gegen die bei Kafka geschilderten Verwerfungen der Moderne einen diese überwindenden Humanismus zu entwickeln.
Dass der „neue Mensch“in der Realität oft recht alt aussah, führte bei vielen Angehörigen der Nomenklatura zu einer tiefen Verunsicherung ihres marxistisch grundierten Glaubens an das „bessere Morgen“. Was aber ändern, wenn Ideologie und Realität so eklatant auseinanderklaffen? Die Ideologie revidieren oder doch versuchen, die Realität den Idealen auf anderen Wegen als den bisherigen anzupassen?
Tiefer in die Lebenswirklichkeit der Menschen als diese theoretischen Debatten wirkten ohnehin die gigantischen, im Namen des Zukunftsprojekts „Sozialismus“unternommenen Umwälzungen der Jahre davor, die Enteignungen, besonders die Kollektivierung des bäuerlichen Landbesitzes, die Kampagnen gegen die als Kulaken diffamierten „Dorfreichen“, die Verfolgung der katholischen Kirche. Etwa 240.000 Menschen waren direkt davon betroffen; rechnet man deren Familienmitglieder dazu, kommt man auf eine knappe Million.
Für die Partei noch wichtiger und gefährlicher als die „Klassenfeinde“von gestern waren aber die in den Schauprozessen verurteilten eigenen Genossen. Sie kehrten jetzt, so sie überlebt hatten, mit der für den ganzen Sowjetblock verkündeten „Entstalinisierung“aus den Gefängnissen und Straflagern in die Öffentlichkeit zurück. Dort waren sie gleichsam lebende Beweise dafür, dass die Partei den Pfad der „sozialistischen Gesetzlichkeit“verlassen und sich damit ein gewaltiges Glaubwürdigkeitsproblem aufgebürdet hatte. Mehrere Kommissionen versuchten sich an ihrer Rehabilitierung. Sie hatten damit zu kämpfen, dass die Täter und ihre Mitwisser weiterhin in ihren führenden Positionen in Staat und Partei verblieben und die Justizverbrechen nicht als systemimmanent, sondern bloß als Verfehlungen Einzelner dargestellt wurden. Dennoch: Die Büchse der Pandora war geöffnet worden, das spätstalinistische System gehörig unter Druck geraten. Es bedurfte dann noch der mit dem Prager Zentralismus unzufriedenen Slowaken, um das Sinnbild der alten Nomenklatura, Parteichef Anton´ın Novotny, im Jänner 1968 zu stürzen und den Chef der slowakischen Teilpartei, Alexander Dubcek,ˇ als neuen ersten Sekretär der KP und damit als wichtigsten Mann der Tschechoslowakei zu installieren. Dubcek,ˇ der selbst Mitglied einer Rehabilitierungskommission gewesen und von deren Ergebnissen tief erschüttert war, ließ nun Dinge zu, die bisher ein No-Go gewesen waren.
Die wohl wichtigste Entscheidung war die Aufhebung der Zensur im März 1968. Fast schlagartig bildete sich eine kritische Öffentlichkeit heraus, die die Reformer um Dubcekˇ im Wissen um die starke Position der KP-Kader in den Medien so nicht erwartet hatten. Das Aktionsprogramm der Partei vom April 1968 sollte zum wichtigsten programmatischen Reformdokument werden. Es verkündete bis dahin Ungehörtes und Unerhörtes und griff dabei auf die Ideen der Expertenteams wie jenes von Sikˇ oder des später nach Österreich emigrierten Politologen Zdenek˘ Mlynaˇr zurück. Dabei enthielt es etwa die Garantie auf die freie Berufswahl ebenso wie die Gewährleistung bestimmter Formen unternehmerische Freiheit, das Bekenntnis zu bisher als „bürgerlich“denunzierten Menschenrechten wie Meinungs-, Religions- und Reisefreiheit.
Die in der Verfassung verankerte „führende Rolle“der Partei sollte jetzt durch Überzeugungsarbeit, nicht mehr Unterdrückung Andersdenkender gewährleistet, Parlament, Regierung und Gewerkschaften aus ihrer Rolle als bloße Transmissionsriemen der Partei befreit werden. Man war im Wissen um die starke Verankerung des Sozialismus in der Gesellschaft zuversichtlich, dennoch an der Macht zu bleiben und den Reformprozess steuern zu können. Vor der Frage, ob man diese Macht im Falle fehlender Unterstützung bei freien Wahlen in Zukunft freiwillig abzugeben gewillt sei, bewahrten die Reformer indes, so zynisch dies klingen mag, die einmarschierenden Sowjets. Doch so revolutionär das alles für die Kommunisten war, so zaghaft schien es bald für einen
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