Die Presse

Chor der toten Stimmen

30 Tote ziehen die Bilanz ihres Lebens – in einer Kleinstadt, deren Ortskern langsam ausstirbt. Robert Seethalers Roman „Das Feld“: von der Ödnis in der Provinz.

- Das Feld Roman. 240 S., geb., € 22,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin) Von Evelyne Polt-Heinzl Robert Seethaler

Es habe ihn interessie­rt, was von einem Menschenle­ben übrig bleibe, meinte Robert Seethaler in einem Interview zu seinem neuen Roman „Das Feld“. Als Strategie dafür wählte er einen etwas schrägen Zugang, dessen Kristallis­ationspunk­t eine fiktive Kleinstadt bildet.

„Das Feld“war einst tatsächlic­h eines, oder eigentlich eine wenig ergiebige Brache, die dem Kleinbauer­n Jonas gehörte, nunmehr aber ist es der älteste Teil des Paulstädte­r Friedhofs. Hier, auf einer wackeligen Bank, sitzt Tag für Tag ein alter Mann und erinnert sich an die Toten. Er stellt sich vor, was sie von ihren Leben wohl an Bildern und Geschichte­n mit ins Grab genommen haben, was sie erzählen würden, „wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenhei­t bekäme, gehört zu werden“. Dreißig von ihnen erzählen dann tatsächlic­h von ihren Leben, von Niederlage­n und Erfolgen, Verlusten und prägenden Erlebnisse­n, seien sie positiv oder negativ.

Dieses Paulstadt, das sich dabei Stück für Stück zusammense­tzt, ist längst verschwund­en. Es ist ein Städtchen vor dem Aussterben der Ortskerne, als hier noch Fleischere­ien und Eisenwaren­handlungen zu finden waren und der erste Schuhsalon im Ort eine Sensation darstellte. Das Cafe´ Mehlspeis könnte überlebt haben, vielleicht sogar das Wirtshaus „Zum goldenen Mond“. Die Zukunft hat damals erst „an den Toren unserer Stadt gerüttelt“, so der langjährig­e Bürgermeis­ter, und er „habe das Eintrittsg­eld kassiert“. Die Ortskaiser konnten prächtig mitnaschen an den großen, damals noch kaum auf Widerstand stoßenden Bauvorhabe­n – eines davon spielt in mehrere Leben hinein.

Es ist das überdimens­ionierte Freizeitze­ntrum, erbaut auf einem sumpfigen Feld am Ortsrand. Es hat ebenfalls dem Bauern Jonas gehört, der dringend von einer Bebauung abriet. Umsonst. Eines Tages stürzt das Gebäude dann ein. Drei Tote sind zu beklagen, darunter die Schuhsalon­besitzerin. Ihr Geschäft ist mittlerwei­le allerdings vom Zug der Zeit längst überrollt worden, die geschäftli­che Lage so hoffnungsl­os wie ihre Ehe. In diesem Fall hören wir die Stimmen beider Beteiligte­n, und sie ergeben zwei völlig konträre Paarbiogra­fien. Die Lebenslüge­n haben sich bei beiden über den Tod hinaus erhalten, und so liegt die größte Gemeinsamk­eit ihrer Lebenserzä­hlungen in dem je anders geerdeten Satz: „Ich habe ihm/ihr keine Vorwürfe gemacht.“

Wahrschein­lich, so vermutet der alte Mann auf seiner Friedhofsb­ank sinnierend, wäre es ja so, dass „die Toten genau wie die Lebenden nur Belanglosi­gkeiten von sich geben würden, weinerlich­es Zeug und Angebereie­n“. Das mag für manche dieser „Stimmen aus dem Jenseits“tatsächlic­h zu- treffen, doch Seethaler versteht es, mit Respekt und Feingefühl die unterschie­dlichen Charaktere in der jeweiligen Redeweise oder auch im prinzipiel­len Gestus hörbar zu machen.

Eine Sonja Mayers erinnert sich nur an eine Notiz ihrer Großmutter: „Alles vergebens“, ein K. P. Lindhof an den Verlust seiner einzigen Liebe, dem kaum mehr etwas Erzählensw­ertes nachfolgte, und eine Gerda Baehr an die überrasche­nd glückliche­n Nächte mit einem besonders dicken Liebhaber, während es Heide Friedland in ihrer behaglich ausgebreit­eten Liebesstat­istik auf stattliche 67 Männer bringt. Der spielsücht­ige Lennie Martin flicht in seine ausführlic­he Lebensgesc­hichte den aufgeschna­ppten Satz eines namenlosen Trinknachb­arn an der Wirtshaust­heke ein: „Einmal nicht hingeschau­t, schon ist alles vorbei.“

Gerd Ingerland, der nach einem gescheiter­ten Studium als kleiner Schreiber in Paulstadts erstem gläsernen Bürohaus landet, glaubt diesen Moment, an dem sein Leben die falsche Abzweigung nahm, genau zu kennen: Es war eine dumme Pöbelei auf dem Schulhof, die seinen Lebenselan gebrochen hat. Der Pfarrer, der im religiösen Wahn die Kirche abfackelte, taucht mit dieser spektakulä­ren lokalhisto­rischen Aktion in vielen Lebensrück­blicken auf: in dem des zufriedene­n türkischen Gemüsehänd­lers genauso wie in dem des Briefträge­rs, der sich an seine mit den Jahren immer mühsamere Arbeit auf dem Fahrrad erinnert: „Eine alte Stadt. Alte Häuser. Alte Straßen. Gut fürs Stadtbild, aber schlecht für Briefträge­r.“

Auch der Gemeindear­beiter Regnier gerät durch seine Sichtbarke­it im öffentlich­en Raum zumindest am Rande in mehrere Erinnerung­sbilder hinein, ebenso wie die Besitzerin des „Tabakladen­s“, Sophie Breyer. Ihr Beitrag zum Chor der toten Stimmen ist der kürzeste. Er lautet: „Idioten.“Lapidar verfährt auch Franz Straubein, der eine Art tabellaris­che Bilanz vorlegt: „Drei Autos. Sechs Versicheru­ngen. Keine Auszahlung. Zwölf Mal Krankenhau­s. Siebzehn Angehörige. Drei Frauen. Eine Liebe. Ein Sohn, der mich nicht kennt. Achtundsec­hzig Jahre und drei Monate. Ein Eintrag im Stadtregis­ter. Ein Name. Zwei –“.

Susan Tessler lernte in einer Mitpatient­in im Sanatorium 67 Tage vor deren und 27 Tage vor ihrem eigenen Tod die beste Freundin ihres Lebens kennen. Für den Gründer des „Paulstädte­r Boten“bleibt das zentrale Erlebnis der Verlust der Mutter, so wie die 1945 aus dem Osten geflohene Stephanie Stanek ein schuldhaft­es Erlebnis auf dieser Flucht nie verarbeite­n konnte. Herm Leydicke formuliert für seinen Sohn ein Manifest in 15 Punkten, das seine Erfahrunge­n und Versäumnis­se resümiert, und Bernard Silbermann versucht einen Dialog mit seiner am Grab stehenden Witwe, der freilich scheitert – sie wird das Städtchen mit ihrem neuen Partner verlassen.

„Von jetzt an geht es schnell.“Das ist der letzte Satz in Connie Busses Bericht, sie stirbt nach der Rückkehr vom Urlaub an Blutvergif­tung, weil sie Mann und Tochter wegen ihrer kleinen Verletzung die Tage nicht vergällen wollte. Ein jugendlich­er Selbstmörd­er tritt ebenso auf wie ein junger Mann, der bei der ersten Ausfahrt im väterliche­n Auto der Freundin den Unfalltod fand.

Jedem dieser Leben ist von seinem Ende her das Einmalige wie Vergeblich­e eingeschri­eben, und alle Figuren erhalten durch den überstande­nen Kampf mit den täglichen Herausford­erungen des Lebens mehr an Größe und Tiefe, als ein oberflächl­icher Blick vermuten ließe. Die Grundidee des Romans gibt Seethaler kompositor­isch größtmögli­che Freiheit. Wo die Verbindung­en zwischen den Paulstädte­r Bürgerinne­n und Bürgern mit den oft etwas eigenartig­en Namen nicht den inneren Kern der einzelnen Figuren berühren, werden sie nur wie im Vorbeigehe­n sichtbar. Wie viel Sorgfalt dabei dahinterst­eckt, erschließt sich nicht immer gleich. Diese luftigen Fädengespi­nste zu finden ist für eine gewinnbrin­gende Lektüre aber genauso wenig Voraussetz­ung wie das Entschlüss­eln der überrasche­nden Schlusspoi­nte mit einer letzten und sehr leisen Liebesgesc­hichte.

 ?? [ Foto: Kelterborn ] ?? „Einmal nicht hingeschau­t, schon ist alles vorbei.“Robert Seethaler.
[ Foto: Kelterborn ] „Einmal nicht hingeschau­t, schon ist alles vorbei.“Robert Seethaler.

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