Chor der toten Stimmen
30 Tote ziehen die Bilanz ihres Lebens – in einer Kleinstadt, deren Ortskern langsam ausstirbt. Robert Seethalers Roman „Das Feld“: von der Ödnis in der Provinz.
Es habe ihn interessiert, was von einem Menschenleben übrig bleibe, meinte Robert Seethaler in einem Interview zu seinem neuen Roman „Das Feld“. Als Strategie dafür wählte er einen etwas schrägen Zugang, dessen Kristallisationspunkt eine fiktive Kleinstadt bildet.
„Das Feld“war einst tatsächlich eines, oder eigentlich eine wenig ergiebige Brache, die dem Kleinbauern Jonas gehörte, nunmehr aber ist es der älteste Teil des Paulstädter Friedhofs. Hier, auf einer wackeligen Bank, sitzt Tag für Tag ein alter Mann und erinnert sich an die Toten. Er stellt sich vor, was sie von ihren Leben wohl an Bildern und Geschichten mit ins Grab genommen haben, was sie erzählen würden, „wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden“. Dreißig von ihnen erzählen dann tatsächlich von ihren Leben, von Niederlagen und Erfolgen, Verlusten und prägenden Erlebnissen, seien sie positiv oder negativ.
Dieses Paulstadt, das sich dabei Stück für Stück zusammensetzt, ist längst verschwunden. Es ist ein Städtchen vor dem Aussterben der Ortskerne, als hier noch Fleischereien und Eisenwarenhandlungen zu finden waren und der erste Schuhsalon im Ort eine Sensation darstellte. Das Cafe´ Mehlspeis könnte überlebt haben, vielleicht sogar das Wirtshaus „Zum goldenen Mond“. Die Zukunft hat damals erst „an den Toren unserer Stadt gerüttelt“, so der langjährige Bürgermeister, und er „habe das Eintrittsgeld kassiert“. Die Ortskaiser konnten prächtig mitnaschen an den großen, damals noch kaum auf Widerstand stoßenden Bauvorhaben – eines davon spielt in mehrere Leben hinein.
Es ist das überdimensionierte Freizeitzentrum, erbaut auf einem sumpfigen Feld am Ortsrand. Es hat ebenfalls dem Bauern Jonas gehört, der dringend von einer Bebauung abriet. Umsonst. Eines Tages stürzt das Gebäude dann ein. Drei Tote sind zu beklagen, darunter die Schuhsalonbesitzerin. Ihr Geschäft ist mittlerweile allerdings vom Zug der Zeit längst überrollt worden, die geschäftliche Lage so hoffnungslos wie ihre Ehe. In diesem Fall hören wir die Stimmen beider Beteiligten, und sie ergeben zwei völlig konträre Paarbiografien. Die Lebenslügen haben sich bei beiden über den Tod hinaus erhalten, und so liegt die größte Gemeinsamkeit ihrer Lebenserzählungen in dem je anders geerdeten Satz: „Ich habe ihm/ihr keine Vorwürfe gemacht.“
Wahrscheinlich, so vermutet der alte Mann auf seiner Friedhofsbank sinnierend, wäre es ja so, dass „die Toten genau wie die Lebenden nur Belanglosigkeiten von sich geben würden, weinerliches Zeug und Angebereien“. Das mag für manche dieser „Stimmen aus dem Jenseits“tatsächlich zu- treffen, doch Seethaler versteht es, mit Respekt und Feingefühl die unterschiedlichen Charaktere in der jeweiligen Redeweise oder auch im prinzipiellen Gestus hörbar zu machen.
Eine Sonja Mayers erinnert sich nur an eine Notiz ihrer Großmutter: „Alles vergebens“, ein K. P. Lindhof an den Verlust seiner einzigen Liebe, dem kaum mehr etwas Erzählenswertes nachfolgte, und eine Gerda Baehr an die überraschend glücklichen Nächte mit einem besonders dicken Liebhaber, während es Heide Friedland in ihrer behaglich ausgebreiteten Liebesstatistik auf stattliche 67 Männer bringt. Der spielsüchtige Lennie Martin flicht in seine ausführliche Lebensgeschichte den aufgeschnappten Satz eines namenlosen Trinknachbarn an der Wirtshaustheke ein: „Einmal nicht hingeschaut, schon ist alles vorbei.“
Gerd Ingerland, der nach einem gescheiterten Studium als kleiner Schreiber in Paulstadts erstem gläsernen Bürohaus landet, glaubt diesen Moment, an dem sein Leben die falsche Abzweigung nahm, genau zu kennen: Es war eine dumme Pöbelei auf dem Schulhof, die seinen Lebenselan gebrochen hat. Der Pfarrer, der im religiösen Wahn die Kirche abfackelte, taucht mit dieser spektakulären lokalhistorischen Aktion in vielen Lebensrückblicken auf: in dem des zufriedenen türkischen Gemüsehändlers genauso wie in dem des Briefträgers, der sich an seine mit den Jahren immer mühsamere Arbeit auf dem Fahrrad erinnert: „Eine alte Stadt. Alte Häuser. Alte Straßen. Gut fürs Stadtbild, aber schlecht für Briefträger.“
Auch der Gemeindearbeiter Regnier gerät durch seine Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zumindest am Rande in mehrere Erinnerungsbilder hinein, ebenso wie die Besitzerin des „Tabakladens“, Sophie Breyer. Ihr Beitrag zum Chor der toten Stimmen ist der kürzeste. Er lautet: „Idioten.“Lapidar verfährt auch Franz Straubein, der eine Art tabellarische Bilanz vorlegt: „Drei Autos. Sechs Versicherungen. Keine Auszahlung. Zwölf Mal Krankenhaus. Siebzehn Angehörige. Drei Frauen. Eine Liebe. Ein Sohn, der mich nicht kennt. Achtundsechzig Jahre und drei Monate. Ein Eintrag im Stadtregister. Ein Name. Zwei –“.
Susan Tessler lernte in einer Mitpatientin im Sanatorium 67 Tage vor deren und 27 Tage vor ihrem eigenen Tod die beste Freundin ihres Lebens kennen. Für den Gründer des „Paulstädter Boten“bleibt das zentrale Erlebnis der Verlust der Mutter, so wie die 1945 aus dem Osten geflohene Stephanie Stanek ein schuldhaftes Erlebnis auf dieser Flucht nie verarbeiten konnte. Herm Leydicke formuliert für seinen Sohn ein Manifest in 15 Punkten, das seine Erfahrungen und Versäumnisse resümiert, und Bernard Silbermann versucht einen Dialog mit seiner am Grab stehenden Witwe, der freilich scheitert – sie wird das Städtchen mit ihrem neuen Partner verlassen.
„Von jetzt an geht es schnell.“Das ist der letzte Satz in Connie Busses Bericht, sie stirbt nach der Rückkehr vom Urlaub an Blutvergiftung, weil sie Mann und Tochter wegen ihrer kleinen Verletzung die Tage nicht vergällen wollte. Ein jugendlicher Selbstmörder tritt ebenso auf wie ein junger Mann, der bei der ersten Ausfahrt im väterlichen Auto der Freundin den Unfalltod fand.
Jedem dieser Leben ist von seinem Ende her das Einmalige wie Vergebliche eingeschrieben, und alle Figuren erhalten durch den überstandenen Kampf mit den täglichen Herausforderungen des Lebens mehr an Größe und Tiefe, als ein oberflächlicher Blick vermuten ließe. Die Grundidee des Romans gibt Seethaler kompositorisch größtmögliche Freiheit. Wo die Verbindungen zwischen den Paulstädter Bürgerinnen und Bürgern mit den oft etwas eigenartigen Namen nicht den inneren Kern der einzelnen Figuren berühren, werden sie nur wie im Vorbeigehen sichtbar. Wie viel Sorgfalt dabei dahintersteckt, erschließt sich nicht immer gleich. Diese luftigen Fädengespinste zu finden ist für eine gewinnbringende Lektüre aber genauso wenig Voraussetzung wie das Entschlüsseln der überraschenden Schlusspointe mit einer letzten und sehr leisen Liebesgeschichte.