Alles für den Ruhm
Der Blick in die Geschichte, gerade auch der Blick auf das derzeitige Führungspersonal in der Welt – von Washington bis Beijing, von Moskau bis Istanbul – sollte eigentlich jedem Zeitgenossen mit gesundem Menschenverstand jegliches Bedürfnis nach einem „starken Führer“gründlich vermiesen. Allerdings: Umfragen in mehreren europäischen Staaten – auch in Österreich – zeigen, dass die Gruppe der Sehnsüchtigen nach einer starken Führerschaft eher im Wachsen begriffen ist. Es scheint offenkundig, dass in Zeiten gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche sowie politischer Instabilität ein beträchtlicher Teil der Staatsbürger glaubt, nur ein starker, entschlossener Führer könne das Land vor einem drohenden Schlamassel retten.
Mitnichten, sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Archie Brown, emeritierter Professor der Oxford University. Der Glaube an das wundertätige Wirken von starken Männern (weniger von starken Frauen) ist ein Irrglaube, ein gefährlicher noch dazu. Brown argumentiert eindringlich und scharf gegen Alleinherrscher und für eine kollektive Führung. Sein Buch ist das Fazit einer jahrzehntelangen Erforschung politischer Prozesse, im eigenen Land und insbesondere auch in der Sowjetunion. Es ist eines der wichtigsten politischen Bücher der jüngsten Zeit.
Der chinesische Philosoph Laotse hat die Problematik schon vor langer Zeit erkannt: „Gute Führer erkennt man daran, dass die Männer seine Gegenwart kaum bemerken, während ein weniger guter Führer daran zu erkennen sind, dass die Männer ihm gehorchen und ihn preisen.“Oh ja, eine zeitlose Weisheit und auch auf heutige Regierungschefs in Demokratien anwendbar.
Archie Brown glaubt auch nicht, dass starke Führer automatisch effektive Führer seien. Vielmehr seien jene Regierungschefs, die an ihre überlegene Urteilskraft glauben, anfällig für Irrtümer. „Politische Führer, die stolz auf ihre , Stärke‘ sind oder meinen, stark wirken zu müssen, haben eine besonders ausgeprägte Wirkung zu Militärinterventionen.“Solche Politiker befällt gern das „Hybrissyndrom“, sie sehen die Welt als Raum, in dem Macht gleichbedeutend mit Recht ist und in dem sie nach Ruhm streben können. Mögliche Fehlentwicklungen nach Entscheidungen werden nicht mitbedacht, Details des politischen Alltagsgeschäfts interessieren sie nicht. Vor allem der Mangel beziehungsweise die Unterdrückung von Widerspruch ist es, die die starken Führer für geeignet hält, Entscheidungen zu treffen. Da fallen einem sofort Donald Trump oder Recep Tayyip Erdogan ein.
Gut, Brown sieht das politische System der USA als dermaßen stabil an, dass es auch ein Donald Trump nicht so leicht aus- hebeln kann: „Die strikte Gewaltenteilung, die Tatsache, dass der Kongress verglichen mit anderen Legislativen ungewöhnlich mächtig ist, die Entschlossenheit des Obersten Gerichtshofs, die Verfassungsmäßigkeit präsidialer Entscheidungen zu prüfen, sowie die Existenz mächtiger finanzstarker Interessensgruppen beschränken den Spielraum des amerikanischen Präsidenten sehr viel mehr als das Prestige eines scheinbar mit ungeheuer Macht ausgestatteten Amtes vermuten lässt.“Freilich, gerade die aus dem Hintergrund agierenden und immer einflussreicher werdenden Superreichen, die Finanzlobbys und die engen Verbindungen von Politikern mit Medienzaren bereiten die politische Bühne vor für den Auftritt starker Männer, nicht nur in den USA. Oder aber die Demokratien drohen, zu Plutokratien zu verkommen.
Brown ist überzeugt, dass kollektiv angelegte Führung bessere politische Ergebnisse bringt als maßlose persönliche Macht: „Warum sollten wir uns mit einem politischen Prozess abfinden, der dem Größenwahn eines Regierungschefs Vorschub leistet, Unterwürfigkeit und Selbstzensur der Kabinettskollegen fördert und das Gruppendenken begünstigt? Warum sollten wir uns einen Regierungschef wünschen, der sein Kabinett vollkommen beherrscht und dessen Minister bloße Gefolgsleute sind? Je offener in einer kollektiven Führung debattiert werden kann, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit besonders schlimmer Exzesse.“
Beispiel China, wo Deng Xiaoping nach Maos Tod auf kollektive Führung setzte, politische Gewalt und politische Willkür zurückschraubte, die Transformation des Wirtschaftssystems einleitete, was einen rasanten, wenn auch ungleich verteilten Anstieg des Lebensstandards einleitete – bei Aufrechterhaltung der autoritären Herrschaft der Kommunisten. Der jetzige Parteichef Xi Jinping hat dieses kollektive Führungsmodell Dengs gerade zertrümmert und sich die Bahn frei für seine Herrschaft auf Lebenszeit machen lassen. Xi bringt immer mehr loyale Anhänger in hochrangige Positionen, die alle seine Entscheidungen widerspruchslos abnicken, Korrektive scheint es damit in der chinesischen Führung keine mehr zu geben.
Und was sind für Brown gute Führer, epochale Politiker? Er unterscheidet zwischen Führern, die die Grenzen des politisch Möglichen hinausschieben und eine radikal neue Politik gestalten. Als Beispiele dafür nennt er die US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson, die britische Premierministerin Margaret Thatcher und die deutschen Kanzler Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl. Transformative Führer wiederum sind für Brown Politiker, die entscheidend dazu beitrugen, das politische und wirtschaftliche System eines Landes zu verändern. Seine Beispiele: Frankreichs Charles de Gaulle, Spaniens Adolfo Suarez, Chinas Deng Xiaoping, Südafrikas Nelson Mandela und vor allem der Russe Michail Gorbatschow.
Nach Zusatzbetrachtungen zu Revolutionen und revolutionärer Führung, zu totalitärer und autoritärer Führung, zu den außenpolitischen Illusionen, zu denen gerade starke Führer tendieren, rät Brown seinen Lesern zum Schluss: „Politische Führer, die glauben, sie hätten einen persönlichen Anspruch darauf, die Entscheidungsfindung in zahlreichen Politikbereichen zu dominieren, schaden sowohl der guten Regierungspraxis als auch der Demokratie. Sie verdienen keine Gefolgschaft, sondern Kritik.“
Der Mythos vom starken Führer Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert. Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Gebauer. 474 S., geb., € 25,70 (Propyläen Verlag, Berlin)
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