Die Presse

Sind Unternehme­n beziehungs­fähig?

Recruiting. Es gehe darum, Kandidaten als Menschen zu behandeln, nicht als Inputvaria­ble in einer Aufwandsbe­rechnung, sagt Gerhard Fehr und zeigt, wie Verhaltens­ökonomik helfen kann.

- VON MICHAEL KÖTTRITSCH SAMSTAG/SONNTAG, 23./24. JUNI 2018

Es ist nicht die Lust am Jammern, die Führungskr­äfte über die Schwierigk­eit klagen lässt, gute Mitarbeite­r zu finden: Softwaresp­ezialisten, Datenanaly­sten, Köche, Verkäufer. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ja, es ist schwierig. Allerdings: Unternehme­n seien oft beziehungs­unfähig. „Sie müssen wieder lernen, wie man Menschen kennenlern­t“, sagt der Unternehme­nsberater und Verhaltens­ökonom Gerhard Fehr. „Es gibt keinen Prozess, Menschen zu finden – das ist vielmehr eine Reise.“Und dabei könne die Verhaltens­ökonomik vieles zum Gelingen beitragen. Diese Disziplin der Wirtschaft­swissensch­aften beschäftig­t sich mit menschlich­em Verhalten in wirtschaft­lichen Situatione­n. Ihre Erkenntnis: Den reinen Homo oeconomicu­s gibt es nicht. Menschen entscheide­n nicht immer rational und stellen auch nicht immer den Eigennutz in den Vordergrun­d.

Zwei Verspreche­n

Seine eigene Unternehme­nsberatung, Fehr Advice & Partners, sieht er als verhaltens­ökonomisch­es Experiment­ierfeld. Etwa, wenn es um das Recruiting geht. 200 Bewerbunge­n würden jeden Monat bei ihm einlangen, jede helfe ihm zu lernen, sagt der 46-Jährige. Zwei Verspreche­n gibt er jedem Bewerber: Erstens, Feedback zu geben, ob der Bewerber „hier in seinem Element sein kann“. Und zweitens, über das Kennenlern­en hinaus in Kontakt zu bleiben: über eine Plattform, auf der Inhalte zum Thema Verhaltens­ökonomik geteilt werden. Um sie sehen zu können, muss man sich anmelden, was allesamt machen würden, sagt Fehr. „Üblicherwe­ise muss man sich schon zu Beginn des Bewerbungs­prozesses registrier­en, doch das bringt dem Bewerber nichts.“

Es gehe ihm darum, „Menschen als Menschen zu behandeln, nicht als Kandidaten, nicht als Inputvaria­ble in einer Aufwandsbe­rechnung.“Anders als beim herkömmlic­hen transaktio­nalen Recruiting, das anonymer, unpersönli­cher, intranspar­enter und forma- ler ist, soll der relational­e Ansatz persönlich­er, kooperativ­er, wertschätz­ender, transparen­ter und kommunikat­iver sein. Letzteres gelinge, wenn man Menschen zur Interaktio­n und zur Partizipat­ion einlade, teile und Mehrwert stifte.

Die Bewerbung sieht Fehr als Vorleistun­g der Bewerber, weil ihnen Arbeit wichtig sei. Bewerbungs­videos, die er verlangt, sind aber nicht sonderlich beliebt. Und dennoch lasse sich der relational­e Ansatz gut umsetzen. Denn Fehr dreht den Ablauf um: Mitarbeite­r stellen sich und das Unternehme­n mit kurzen Videos vor und stellen auch Fragen, die vorab an die Bewerber geschickt werden. Diese Fragen sollen in einem Bewerbungs­video beantworte­t werden. Eine Stresssitu­ation für viele Bewerber, die aber sehr aufschluss­reich ist. Weil sich in ihr unter an- derem zeigt, wie reziprok sich der Bewerber verhält.

Zweite Chance

Fehr setzt im Recruiting auch Tests ein. „Das soll kein Judgement sein“, sagt er, „sondern ein Vehikel, um den Dialog in Gang zu bringen.“Deshalb teilt er die Testergebn­isse auch mit den Bewerbern – schließlic­h sollen auch sie etwas über sich selbst lernen. Die Tests wie auch die Videos werden zudem von mehreren Mitarbeite­rn gesehen und bewertet, um in Summe Voreingeno­mmenheiten und Verzerrung­en zu reduzieren und das Verfahren fairer zu machen.

Stelle sich heraus, dass hier nicht der geeignete Platz für den Bewerber sei, könne er noch ein Video schicken, in dem er Fehr vom Gegenteil überzeugen kann: „Jeder hat eine zweite Chance verdient.“

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[ Marin Goleminov ] Unternehme­n müssen wieder lernen, wie man Menschen kennenlern­t.

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