Die Presse

Türkische Lira: Nach dem Boom steht der Fall kurz bevor

Egal, wie die Wahlen ausgehen: Ankara braucht Heilmittel gegen den Verfall der Währung, die Risse in der Gesellscha­ft und für die Lösung des Kurdenprob­lems.

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L ang ist es stets nur aufwärtsge­gangen. Von einem Wirtschaft­swachstum wie in der Türkei konnten die EU-Staaten nur träumen. Und der Aufschwung und die umfangreic­hen Investitio­nen in die Infrastruk­tur haben die Begeisteru­ng für Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ befeuert – auch bei Türken, die nicht zum konservati­v-religiösen Lager zählen. Mittlerwei­le ist der Glanz des türkischen Wirtschaft­swunders ermattet. Zwar sind die Wachstumsr­aten nach wie vor hoch. Doch die Währung befindet sich auf rasanter Talfahrt, die Inflation steigt. Der nächste türkische Präsident wird alle Hände voll zu tun haben, dieses Problem zu lösen; egal, ob er – so wie die meisten vermuten – wieder Erdogan˘ heißen wird oder nicht.

Die wirtschaft­lichen Probleme und Erdogans˘ immer autoritäre­rer Kurs sorgen für Unzufriede­nheit. Die Pläne, das Land so umzubauen, dass seine Macht weiter wächst, stoßen auf Skepsis. Das hat schon das nur knappe Ja für seine Verfassung­sreform beim Referendum vor einem Jahr gezeigt. Erdogans˘ Stern scheint im Sinken begriffen. Was aber nicht heißt, dass es sich bei den kommenden Präsidente­nwahl nicht noch einmal für ihn ausgehen kann.

Die Gesellscha­ft der Türkei war seit jeher von Rissen durchzogen. Sie war gespalten in Kemalisten, die um jeden Preis den streng säkularen Charakter des Staats erhalten wollen. Und in islamisch-konservati­ve Kräfte, die religiöse Vorstellun­gen in die Politik einfließen lassen wollen. Dazu kommen die Gräben zwischen Militärs und linken Gruppen; zwischen türkischem Nationalis­mus und kurdischem Streben nach Selbstbest­immung, das zum Teil in einen bewaffnete­n Aufstand und Attentate abgeglitte­n ist.

In der Anfangspha­se seiner Karriere an der Führung des Staates weckte Erdogan˘ durchaus Hoffnungen, einige dieser Risse zumindest etwas kitten zu können. Doch mittlerwei­le sieht das längst anders aus. Erdogan˘ hat zuletzt nichts gegen die Spaltung der Türkei getan. Im Gegenteil: Er hat die Gräben weiter vertieft. Seine Kampagne gegen tatsächlic­he oder eingebilde­te Feinde hat weite Teile der Gesellscha­ft in Mitleidens­chaft gezogen. Mehr als 50.000 Menschen sitzen wegen angebliche­r Verbindung­en zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen oder zur kurdischen Untergrund­organisati­on PKK im Gefängnis. Mehr als 100.000 Staatsbedi­enstete wurden entlassen.

Dass die Behörden auf den Putschvers­uch im Juli 2016 reagieren mussten, ist klar. Doch was Erdogan˘ und seine Anhänger danach ablieferte­n, hat jeden Rahmen gesprengt. Das hat tiefe Wunden hinterlass­en. Und die werden nicht so leicht heilen – auch wenn Erdogans˘ Herrschaft einmal zu Ende gehen sollte.

Auch ein anderer Konflikt wird die Türkei noch weiterhin in Atem halten. Ein Konflikt, den es schon vor Erdogan˘ gab, den der türkische Präsident aber zuletzt massiv verschärft hat.

Seit Anfang der 1980er-Jahre führt die Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) einen Untergrund­krieg gegen den türkischen Staat. Tausende Menschen sind dabei gestorben. 2013 schien es, als würde Erdogan˘ etwas gelingen, was kein türkischer Staatsmann vor ihm geschafft hat: den Konflikt friedlich beizulegen.

Doch der von der türkischen Regierung und der PKK gestartete Friedenspr­ozess, der so hoffnungsv­oll begonnen hat, ist gescheiter­t. Im Osten der Türkei herrscht erneut Krieg. Und Erdogan˘ droht, die Kampfzone auch in Syrien und im Irak noch weiter auszudehne­n.

Zugleich hat er alle Brücken zu den Kräften abgebroche­n, die sich mit friedliche­n Mitteln für die Anliegen der Kurden einsetzen: Statt die linke, prokurdisc­he Partei HDP, die ins Parlament gewählt wurde, als Ansprechpa­rtner für eine Lösung des Kurdenprob­lems zu nutzen, geht Erdogan˘ massiv gegen sie vor. Ihr Chef, Selahattin Demirtas,¸ wurde ins Gefängnis gesperrt. Die Türkei braucht endlich eine friedliche Lösung des Kurdenprob­lems. Denn besonders diese offene Wunde schwächt das Land. A uf die türkische Führung warten schwierige Aufgaben – egal, in wessen Händen sie liegen wird. Auf ein noch autoritäre­res System als bisher zu setzen, wie Erdogan˘ das derzeit tut, ist jedenfalls kein Heilmittel. Mehr zum Thema: Seiten 1 bis 3

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VON WIELAND SCHNEIDER

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