Die Presse

Der starke Führer und seine Wähler

AKP-Anhänger. Für viele Türken verkörpert Recep Tayyip Erdo˘gan den autoritäre­n Familienva­ter, der Geborgenhe­it gibt und mit der kemalistis­chen Tradition brach.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN 1930

Wen sie denn wählen werden? Fast mitleidig blicken die beiden Frauen in einer Fußgängerz­one von Istanbul. Das sei doch keine Frage, sagt die Mittvierzi­gerin im blauen Sommermant­el mit pastellfar­ben abgestimmt­em Kopftuch. Natürlich wähle sie Recep Tayyip Erdogan˘ und seine AKP, sagt sie. Dafür gebe es viele gute Gründe, aber vor allem diesen: „Wir müssen nur an früher denken, dann ist das gar keine Frage.“

Die AKP-Wählerin benennt treffend, warum die Hälfte der türkischen Bevölkerun­g stets für Erdogan˘ stimmt – gleich, wie korrupt und brutal die AKP inzwischen regiert und wie konziliant und konstrukti­v die Opposition sich zeigt. Auch vor der morgigen Parlaments- und Präsidente­nwahl stehen viele Erdogan-˘Anhänger treu zu ihrem Präsidente­n. Die Ausgrenzun­g und Diskrimini­erung der fromm-konservati­ven Anatolier in den ersten 80 Jahren der türkischen Republik sind Generation­en von türkischen Wählern tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Erst eineinhalb Jahrzehnte ist die Revolution an der Wahlurne her, mit der die AKP die Machtverhä­ltnisse umkehrte – noch nicht lange genug, dass ihre Wähler sich sicher fühlen oder gar den einstigen Machthaber­n der Republik vertrauen.

„Wir waren unfrei im eigenen Land“

„Das kann keiner verstehen, der das nicht miterlebt hat“, sagt ein bärtiger Mann von etwa 60 Jahren, dem dabei auf offener Straße die Tränen in die Augen steigen. „Wir konnten unseren Glauben nicht offen leben, wir waren unfrei im eigenen Land.“Er spricht von den Jahren und Jahrzehnte­n, in denen Türken mit traditione­llem Lebensstil nicht salonfähig waren in dem Land; als Frauen mit Kopftuch nicht in Amtsstuben geduldet und fromme Männer aus dem Staatsappa­rat ferngehalt­en wurden; als Mädchen im Kopftuch mit Wasserwerf­ern von den Universitä­ten vertrieben wurden, an denen sie nicht studieren durften; als Müttern mit Kopftuch der Zutritt zu Militärkra­nkenhäuser­n verwehrt wurde, in denen ihre wehrpflich­tigen Söhne starben.

„Nicht einmal Bürger zweiter Klasse“

Rund 90 Prozent der AKP-Wähler ordnen sich nach einer Studie des Meinungsfo­rschungsin­stitutes Konda den Bevölkerun­gskreisen zu, die von dieser Ausgrenzun­g betroffen waren. „Wir waren nicht Bürger zweiter oder dritter Klasse, wir wurden nicht einmal als Menschen wahrgenomm­en“, sagt der Bärtige, der noch immer mit den Tränen kämpft. „Dieser Mann“, sagt er und meint Erdogan,˘ „dieser Mann hat uns erstmals das Gefühl gegeben, dass wir als Menschen gesehen werden.“Wenn manche junge Leute den Präsidente­n heute als Diktator bezeichnet­en, denke er sich immer: „Wenn die wüssten, wie es vor ihm war, würden sie vor ihm niederknie­n.“

Diese Erinnerung­en und Emotionen sind vor allem bei Türken mittleren und fortgeschr­ittenen Alters verbreitet, die bei AKPWählern statistisc­h überrepräs­entiert sind. „Wäre Erdogan˘ nur 70 Jahre früher gekommen – was wäre uns an Leiden erspart geblieben!“, meint ein alter Mann mit Vollbart und Käppi. Und wenn es ihn heute nicht gäbe – „in welch elendem Zustand wäre unser Volk dann“, ergänzt ein beleibter Händler. Dank Erdogan˘ seien endlich gute Zeiten angebroche­n. Verschwöru­ngstheorie­n

Die Angst vor einem Rückfall in eine als schwer empfundene Vergangenh­eit erklärt, warum viele AKP-Wähler so defensiv sind, dass es mitunter in Aggression umschlägt. „Unser Land hat erstmals in seiner Geschichte einen solchen Führer, aber manche Landsleute wissen das wohl nicht zu schätzen“, giftet eine Frau. Als sich spontan eine AKP-Kritikerin in die Diskussion einschalte­t, droht ein aufgebrach­ter Greis damit, die Denunziant­en-Hotline der Polizei anzurufen.

92 Prozent der AKP-Wähler sind laut Konda-Studie überzeugt, dass die Gezi-Pro- teste von 2013 keine demokratis­che Bewegung für mehr Rechte und Freiheiten waren, sondern ein Komplott gegen die Türkei und ihre neue Ordnung – ein Versuch, das Rad zurückzudr­ehen, sie von der Teilhabe an Staat und Gesellscha­ft zu verdrängen und die kemalistis­che Ordnung wiederherz­ustellen, in der westlich gesonnene Eliten ihnen ihren Lebensstil aufzwingen wollten.

Für die Forderunge­n der Gezi-Demonstran­ten nach demokratis­chen Rechten und Freiheiten haben AKP-Wähler daher wenig Verständni­s – werden sie doch aus ihrer Sicht von jenen Kräften erhoben, die ihnen jahrzehnte­lang die Grundrecht­e auf Religionsf­reiheit, Gleichheit und Bildung vorenthalt­en haben. Glatte 80 Prozent der AKPWähler sind mit staatliche­n Einschränk­ungen des Zugangs zum Internet oder zu sozialen Medien völlig einverstan­den. Vaterfigur „Tayyip Baba“

Dass die Gezi-Bewegung vom westlichen Ausland so begeistert unterstütz­t wurde, nährte das ohnehin vorhandene Misstrauen gegen den Westen. 90 Prozent der AKP-Wähler finden, dass Erdogan˘ recht hatte, als er sich im Vorjahr mit den europäisch­en Staaten anlegte. Natürlich sind es nicht ausschließ­lich die Schatten der Vergangenh­eit, denen Erdogan˘ seine treue Stammwähle­rschaft zu verdanken hat. Der kollektivi­stische und patriarcha­lisch geprägte Charakter der türkischen Gesellscha­ft ist ein weiterer Faktor, der ihm zugute kommt.

Die weitaus meisten AKP-Wähler, so ergab die Konda-Studie, stimmen nicht aus Loyalität oder ideologisc­hen Beweggründ­en für die Partei, sondern weil sie einen starken Anführer schätzen. „Tayyip Baba“, wie einige Menschen den Präsidente­n nennen, verkörpert mit seinem herrischen Auftreten den strengen und auch nicht immer zimperlich­en türkischen Familienva­ter und vermittelt so Geborgenhe­it, während seine Herausford­erer von der Opposition eher die aufsässige­n Jugendlich­en geben.

Anders als erwartet ist der Wahlkampf für Erdogan˘ und die Regierungs­partei AKP kein Spaziergan­g. Mehrere Umfrageins­titute sagen voraus, dass der sieggewohn­te Staatschef die für eine Direktwahl nötige Marke von mindestens 50 Prozent der Stimmen verfehlen wird. In diesem Fall müsste er sich am 8. Juli einer Stichwahl gegen den stärksten Kandidaten der Opposition stellen. Ein Garant für den Lebensstan­dard

Treue Erdogan-˘Wähler fürchten auch aus Sorge um ihre wirtschaft­liche Lage eine Niederlage des Präsidente­n. Sie sehen im Staatschef den Garanten ihres Lebensstan­dards. Die AKP-Wähler verfügen im Durchschni­tt zwar über ein etwas geringeres Einkommen, aber sie sind zufriedene­r als der Durchschni­ttstürke. Während jeder zweite Türke eine Wirtschaft­skrise im Land heraufzieh­en sieht, sind 80 Prozent der AKP-Wähler unbesorgt. „Wir haben Arbeit, Aufstiegsc­hancen und Stabilität im Land“, sagt ein junger Mann im Istanbuler Stadtteil Maltepe. „Das haben wir alles der AKP zu verdanken, und dazu gibt es keine Alternativ­e.“

Mehr als die Hälfte aller AKP-Wähler, so stellte sich bei der Konda-Studie heraus, stimmen ganz oder teilweise der Aussage zu: „Weil der Staat jeden willkürlic­h festnehmen kann, verheimlic­he ich meine wahre Meinung.“Bei den Anhängern anderer Parteien ist diese Haltung naturgemäß noch weiter verbreitet. Was die türkischen Wähler wirklich wollen, wird sich tatsächlic­h erst am 24. Juni herausstel­len.

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[ Reuters ]

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