„Müssen die Union für die schlimmsten Fälle vorbereiten“
Europäischer Rat. Der Brüsseler Gipfel ringt mit der Migration, doch das wahre Leitmotiv ist die Bedrohung der liberalen Demokratie durch den Autoritarismus.
Brüssel. Migration, Migration, Migration: Mit welchem europäischen Diplomaten man dieser Tage auch spricht, alle nennen sie den Druck, den illegale Zuwanderung und Flüchtlingswellen auf die Union ausüben, als das Hauptthema des Europäischen Rates am Donnerstag und Freitag in Brüssel.
Doch in seinem Einladungsschreiben an die 28 Staats- und Regierungschefs warnt Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, vor einer fundamentalen Bedrohung Europas, für welche die Migrationskrise nur ein Symptom ist. Mit Hinweis auf den Angriff des US-Präsidenten Donald Trump auf die Nachkriegsordnung schreibt er: „Es ist mein Glaube, auch wenn ich das Beste erhoffe, dass wir unsere Union für den schlimmsten Fall vorbereiten müssen.“Und weiter: „Mehr und mehr Menschen beginnen zu glauben, dass nur Macht mit harter Hand, antieuropäisch und antiliberal im Geist, mit einer Neigung zu offenem Autoritarismus, fähig ist, die Welle illegaler Einwanderung zu stoppen. Wenn die Menschen das glauben, werden sie auch alles andere glauben, was gesagt wird. Der Einsatz ist hoch. Und die Zeit drängt.“
Drei große Themen werden dieses Gipfeltreffen beherrschen. Bei keinem davon ist eine endgültige Klärung der grundlegenden Probleme zu erwarten. Und so steigt der Druck auf die österreichische Bundesregierung, ab dem 1. Juli im Rahmen des sechsmonatigen Ratsvorsitzes ihrem selbst genannten Anspruch gerecht zu werden, in Europa „Brücken zu bauen“.
Brexit
Hier gibt es neun Monate vor dem Austritt des Vereinten Königreichs keine Bewegung – weder bei der Schlüsselfrage, was mit der irisch-nordirischen Grenze geschehen soll, noch beim Problem, dass alle EU-Regeln über den grenzüberschreitenden Verkehr und Warenaustausch nach dem Brexit in Großbritannien nicht mehr gelten werden. „Abgesehen davon erwarten wir von unseren britischen Partnern, dass sie uns darlegen, wie sie sich die Zukunft der Beziehung zwischen EU und Vereinigtem Königreich vorstellen“, sagte ein hoher EU-Diplomat am Mittwoch. Zwar ist vorgesehen, dass es eine 21-monatige Übergangsfrist nach dem 29. März 2019 geben soll. Doch diese soll nur im Rahmen einer Gesamtlösung gelten. Und so steht im Raum, dass britische Fluglinien ab April nächsten Jahres keine Flughäfen in der EU mehr ansteuern können. Das hätte gravierende Auswirkungen auf den Warenhandel und die Lieferketten von Unternehmen.
Migration
Über das Ziel ist man sich einig: „Die Priorität sollte sein, wie wir im Hier und Jetzt irreguläre Zuwanderung limitieren“, sagte der genannte EU-Diplomat. Dafür schweben zwei Konzepte im Raum. Das eine wird von Frankreich und Spanien vorangetrieben und sieht von der Union bezahlte geschlossene Erstaufnahmezentren auf EU-Boden vor, in denen rasch zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen unterschieden, Erstere schnell abgeschoben und Zweitere mittels einer Formel auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Allerdings braucht es dafür den Zuspruch der italienischen Regierung, denn aus geografischen Gründen würden die meisten dieser Zentren wohl in Italien liegen. Inwiefern sich der rechtsautoritäre Innenminister, Matteo Salvini, mit Milliarden aus Brüssel von seiner Haltung abbringen lassen würde, Italien nicht zu einem einzigen Flüchtlingslager verkommen zu lassen, wie er das zu sagen pflegt, ist fraglich.
Das zweite Modell sähe „Landungsplattformen“in Nordafrika vor. Die lokalen Küstenwachen würden von der EU aufgerüstet und würden so viele Flüchtlingsboote wie möglich in ihren Hoheitsgewässern abfangen und zurückbringen. Zurück auf afrikanischem Boden, würden die Bootsinsassen von UNHCR und Internationaler Migrationsorganisation (IOM) in Migranten und Flüchtlinge unterteilt. Erstere würden dazu bewogen, heimzukehren; solche Programme fördert die Union in Libyen und der Sahelzone bereits. Zweitere könnten auf die EU-Staaten verteilt werden – auch das macht die Union bereits, allerdings ohne automatischen Asylanspruch, wie die Kommission betont. „Das Ziel ist nicht, dass wir Lager auf dem Staatsgebiet von Drittstaaten bauen wollen“, sagte der EU-Diplomat. „Sondern: Wenn wir die Rückkehr einiger Schiffe bewirken können, können wir das Geschäftsmodell der Schlepper brechen.“Dafür wird aber viel Geld nötig sein, um die beteiligten Maghrebstaaten zu unterstützen. Darum brauche es neue „flexible finanzielle Mittel, die von Leuten gemanagt werden, die mit Migration zu tun haben – aber nicht anstelle von Entwicklungshilfe“. Dieses Geld müsse nach dem Jahr 2020 fix aus dem Unionshaushalt kommen, nicht aus freiwilligen Einzahlungen der Mitgliedstaaten in spontan organisierte Fonds: „Wir müssen die Lehren aus der Migrationskrise von 2015 ziehen. Das Problem der Migration wird uns nicht für Monate begleiten, sondern für Jahre oder Jahrzehnte.“
Eurozone
Ursprünglich hatten sich die Chefs der Eurozonenmitglieder für dieses Gipfeltreffen den ganz großen Wurf zur Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion vorgenommen. Immerhin in einigen weniger strittigen Punkten „könnte es erstmals Entscheidungen geben“. Das betrifft vor allem die Einigung darüber, einen sogenannten Backstop für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu schaffen. Sprich: nach dem Vorbild der USA, wo das Finanzministerium dem von den Banken mit Beiträgen gefüllten Krisenfonds eine Kreditlinie für Extremfälle gewährt, soll der ESM dies dem 2014 geschaffenen Abwicklungsfonds einräumen können, in den die Großbanken einzahlen. Von einem Eurozonenbudget ist dieses Mal keine Rede: „Da wird es keine Entscheidungen geben“, sagte der Diplomat.