„Das könnten Haftlager werden“
Migrationspolitik. Der Brüsseler Gipfelbeschluss, mittels Ausschiffungsplattformen in Nordafrika die klandestinen Überfahrten per Schmugglerboot zu stoppen, ist derzeit nicht umsetzbar.
Der EU-Gipfelbeschluss, mittels Ausschiffungsplattformen in Nordafrika Überfahrten per Schmugglerboot zu stoppen, ist derzeit nicht umsetzbar.
Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs waren am Freitag nach ihrer langen Brüsseler Verhandlungsnacht kaum in ihre Limousinen gestiegen, als die Europäische Kommission unter den anwesenden Journalisten bereits ein aufwendig gestaltetes fünfseitiges Papier über die „rechtliche und praktische Machbarkeit von Ausschiffungsoptionen“verteilen ließ. Ausschiffungsoption oder Anlandeplattformen: Diese seltsamen Wortschöpfungen umfassen die Absicht der Europäer, Migranten und Flüchtlinge von der Überquerung des Mittelmeers abzubringen.
Denn diese ist, kraft des ungelösten Problems, was man mit diesen Bootsflüchtlingen in der Union anfangen soll, nicht nur zum politischen Spaltpilz zwischen den Mittelmeerstaaten und den reicheren Zielländern der Migranten im Norden geworden. Die klandestine Überfahrt wird auch zusehends tödlicher. Mehr als 1000 Migranten sind heuer schon beim Versuch ertrunken, von Libyen aus in die EU zu gelangen. Allein in den vergangenen Tagen sind laut der Interna- tionalen Organisation für Migration (IOM) rund 200 Menschen auf diese Weise gestorben. Die Menschenschmuggler würden die Torschlusspanik vieler Migranten ausnutzen, die befürchteten, dass die Europäer bald härtere Maßnahmen gegen die irreguläre Einwanderung ins europäische Asylsystem ergreifen werden.
Überfahrt wird gefährlicher
Paradoxerweise werden diese Überfahrten tödlicher, während ihre Gesamtzahl rasant sinkt. Die Bertelsmann-Stiftung zitiert Zahlen des UNO-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, wonach im vorigen Jahr 172.301 Menschen in Nordafrika in Schlepperboote gestiegen seien, um nach Europa zu gelangen. Das sei halb so viel gewesen wie im Rekordjahr 2016. Doch diese Überfahrt wurde deutlich gefährlicher: Vor drei Jahren starben von 1000 Bootsmigranten vier. Heute sind es 23.
Die Zeit drängt also, das in der langen Nacht von Donnerstag auf Freitag in Grundzügen beschlossene System der Ausschiffungsplattformen in die Tat umzusetzen. Das eingangs erwähnte Thesenpapier der Kommission hält fest, dass die Ausschiffung von Migranten in Drittstaaten „möglich ist, wenn die Rettungsaktion in den Hoheitsgewässern dieses Drittstaats von seiner Küstenwache oder von anderen Drittstaatsschiffen durchgeführt wird“– sprich wen die libysche Küstenwache aus libyschen Gewässern auffischt, den könnte sie in ein Ausschiffungszentrum in Libyen bringen. Werden sie hingegen auf hoher See von Schiffen unter EU-Flagge gerettet (und das ist, im Rahmen der Mission „Themis“, so gut wie täglich der Fall), dürften sie nur in so eine Plattform gebracht werden, wenn das Prinzip der Nichtzurückweisung respektiert wird. Also: Die Geretteten dürfen nicht in einen Staat ge- bracht werden, wo ihnen Verfolgung oder sonstige menschenunwürdige Behandlung droht.
Genau das ist jedoch der springende Punkt: Was soll mit jenen Wirtschaftsmigranten geschehen, die keine Aussicht darauf haben, im Rahmen eines ResettlementProgramms der EU in Europa Asyl zu beantragen? Schon jetzt ist die Abschiebung oder „freiwillige Rückkehr“solcher Menschen in den meisten Fällen unmöglich, weil ihre Herkunftsstaaten sie nicht zurücknehmen. „Indem man versucht, Asylwerber davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, scheint es möglich, dass diese Asylzentren de facto zu Haftlagern würden“, warnt die BertelsmannStiftung in ihrem Papier.
Vor diesen juristischen Erwägungen stellt jedoch ein politisches Problem die größte Hürde für diese Plattformen dar: Sämtliche nordafrikanische Staaten weigern sich derzeit, sich dafür herzugeben. „Wir sind mit diesen Ländern schon wegen anderer Themen seit Längerem in Kontakt“, erklärte eine Kommissionssprecherin am Montag. Einen konkreten Zeitplan, wann und wo die erste Plattform eröffnet wird, gibt es nicht.