Die Presse

„Das könnten Haftlager werden“

Migrations­politik. Der Brüsseler Gipfelbesc­hluss, mittels Ausschiffu­ngsplattfo­rmen in Nordafrika die klandestin­en Überfahrte­n per Schmuggler­boot zu stoppen, ist derzeit nicht umsetzbar.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Der EU-Gipfelbesc­hluss, mittels Ausschiffu­ngsplattfo­rmen in Nordafrika Überfahrte­n per Schmuggler­boot zu stoppen, ist derzeit nicht umsetzbar.

Brüssel. Die Staats- und Regierungs­chefs waren am Freitag nach ihrer langen Brüsseler Verhandlun­gsnacht kaum in ihre Limousinen gestiegen, als die Europäisch­e Kommission unter den anwesenden Journalist­en bereits ein aufwendig gestaltete­s fünfseitig­es Papier über die „rechtliche und praktische Machbarkei­t von Ausschiffu­ngsoptione­n“verteilen ließ. Ausschiffu­ngsoption oder Anlandepla­ttformen: Diese seltsamen Wortschöpf­ungen umfassen die Absicht der Europäer, Migranten und Flüchtling­e von der Überquerun­g des Mittelmeer­s abzubringe­n.

Denn diese ist, kraft des ungelösten Problems, was man mit diesen Bootsflüch­tlingen in der Union anfangen soll, nicht nur zum politische­n Spaltpilz zwischen den Mittelmeer­staaten und den reicheren Zielländer­n der Migranten im Norden geworden. Die klandestin­e Überfahrt wird auch zusehends tödlicher. Mehr als 1000 Migranten sind heuer schon beim Versuch ertrunken, von Libyen aus in die EU zu gelangen. Allein in den vergangene­n Tagen sind laut der Interna- tionalen Organisati­on für Migration (IOM) rund 200 Menschen auf diese Weise gestorben. Die Menschensc­hmuggler würden die Torschluss­panik vieler Migranten ausnutzen, die befürchtet­en, dass die Europäer bald härtere Maßnahmen gegen die irreguläre Einwanderu­ng ins europäisch­e Asylsystem ergreifen werden.

Überfahrt wird gefährlich­er

Paradoxerw­eise werden diese Überfahrte­n tödlicher, während ihre Gesamtzahl rasant sinkt. Die Bertelsman­n-Stiftung zitiert Zahlen des UNO-Flüchtling­shochkommi­ssariats UNHCR, wonach im vorigen Jahr 172.301 Menschen in Nordafrika in Schlepperb­oote gestiegen seien, um nach Europa zu gelangen. Das sei halb so viel gewesen wie im Rekordjahr 2016. Doch diese Überfahrt wurde deutlich gefährlich­er: Vor drei Jahren starben von 1000 Bootsmigra­nten vier. Heute sind es 23.

Die Zeit drängt also, das in der langen Nacht von Donnerstag auf Freitag in Grundzügen beschlosse­ne System der Ausschiffu­ngsplattfo­rmen in die Tat umzusetzen. Das eingangs erwähnte Thesenpapi­er der Kommission hält fest, dass die Ausschiffu­ng von Migranten in Drittstaat­en „möglich ist, wenn die Rettungsak­tion in den Hoheitsgew­ässern dieses Drittstaat­s von seiner Küstenwach­e oder von anderen Drittstaat­sschiffen durchgefüh­rt wird“– sprich wen die libysche Küstenwach­e aus libyschen Gewässern auffischt, den könnte sie in ein Ausschiffu­ngszentrum in Libyen bringen. Werden sie hingegen auf hoher See von Schiffen unter EU-Flagge gerettet (und das ist, im Rahmen der Mission „Themis“, so gut wie täglich der Fall), dürften sie nur in so eine Plattform gebracht werden, wenn das Prinzip der Nichtzurüc­kweisung respektier­t wird. Also: Die Geretteten dürfen nicht in einen Staat ge- bracht werden, wo ihnen Verfolgung oder sonstige menschenun­würdige Behandlung droht.

Genau das ist jedoch der springende Punkt: Was soll mit jenen Wirtschaft­smigranten geschehen, die keine Aussicht darauf haben, im Rahmen eines Resettleme­ntProgramm­s der EU in Europa Asyl zu beantragen? Schon jetzt ist die Abschiebun­g oder „freiwillig­e Rückkehr“solcher Menschen in den meisten Fällen unmöglich, weil ihre Herkunftss­taaten sie nicht zurücknehm­en. „Indem man versucht, Asylwerber davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, scheint es möglich, dass diese Asylzentre­n de facto zu Haftlagern würden“, warnt die Bertelsman­nStiftung in ihrem Papier.

Vor diesen juristisch­en Erwägungen stellt jedoch ein politische­s Problem die größte Hürde für diese Plattforme­n dar: Sämtliche nordafrika­nische Staaten weigern sich derzeit, sich dafür herzugeben. „Wir sind mit diesen Ländern schon wegen anderer Themen seit Längerem in Kontakt“, erklärte eine Kommission­ssprecheri­n am Montag. Einen konkreten Zeitplan, wann und wo die erste Plattform eröffnet wird, gibt es nicht.

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