Ein großer Reporter sagt leise Adieu
Wer
seinen Tag mit dem Radiosender France Inter beginnt, auch außerhalb Frankreichs kann man dies dank eines Webstream tun, für den ist die Kolumne „Geopolitique“´ von Bernard Guetta knapp nach viertel neun ein Muss. 27 Jahre lang hat dieser große Reporter, dessen Berichte über die Anfänge der polnischen Bürgerrechtsbewegung Solidarnos´c´ für „Le Monde“zu Beginn der Achtzigerjahre von Radiostationen im gesamten Westen weiterverbreitet wurden, weil kaum jemand einen Korrespondenten nach Polen zu schicken für notwendig befunden hatte, wochentags seinen Hörern die Welt erklärt. Die Welt erklären: Dazu fühlt man sich in unserem Metier gern berufen, selbst wenn man nicht allzu viel von ihr gesehen hat. Für Guetta (ja, die Vermutung ist korrekt: Er ist als Halbbruder mit dem DJ David Guetta verwandt) trifft die Bezeichnung Welterklärer wirklich zu. Mit Scharfsinn, Demut und unbeugsam optimistisch, dass die Dinge sich letztlich doch dem Guten zuneigen werden, verschafft er seinen Hörern eine klarere Sicht auf die Weltlage.
Damit ist Ende dieser Woche Schluss. „Ich höre auf, weil ich nicht mehr über die Welt sprechen kann, ohne mich vor Ort zu begeben“, erklärte er seine Entscheidung. „Mit Stift und Block in der Hand“wolle er nun eine Weltreise antreten, im Rahmen derer er jeweils zwei, drei Monate aus verschiedenen Städten berichten wolle, aus den USA ebenso wie aus Budapest. Daraus soll ein Buch entstehen, und man darf hoffen, dass es ähnlich lesenswert sein wird wie seine Memoiren, „Dans l’ivresse de l’Histoire“, die voriges Jahr bei Flammarion erschienen sind. Über seine Zeit in Wien als junger Osteuropakorrespondent schreibt er darin unter anderem dies: „Alles war zuckersüß, liebenswert, delikat und unterm Strich in der Perfektion dieses Operettenstaates derart unerträglich, dass seine Intellektuellen sich Tag und Nacht erbrachen.“Man sieht: Schon damals mühte sich manch ein heimischer Intellektueller an unserer lieben, kleinen Republik gehörig ab.