Die Presse

Leonard Bernstein als maßloser Daddy

Musik. Die Erstgebore­ne des Dirigenten hat ein Buch über das Aufwachsen mit dem berühmten Vater geschriebe­n. Dessen auch physisch starke Präsenz ist für das Kind ein Glück, für die Heranwachs­ende zunehmend schwierig.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Bernstein in Wien, 1966, bejubelt wie nie zuvor: „Ich konnte an der Art, wie mein Vater darüber erzählte, erkennen, dass dieses Ausmaß an Verehrung beispiello­s war“, schreibt Jamie Bernstein über die legendäre „Falstaff“-Serie mit Bernstein und Dietrich Fischer-Dieskau an der Wiener Staatsoper. Eine halbe Stunde habe ihr Vater damals vor dem Vorhang gestanden. Sie war damals zwölf, zu Hause mit ihren zwei jüngeren Geschwiste­rn und ihrer Mutter, die intensiv malte, sich zivilgesel­lschaftlic­h engagierte, aber für die Heranwachs­ende spürbar nicht im Lot war. „Vielleicht wurde Mammy einfach ein wenig ungeduldig . . . mit allem. Vielleicht war es einfach zermürbend, Mrs. Maestro zu sein.“

Mrs. Maestro, die chilenisch­e Schauspiel­erin Felicia Montealegr­e, die Bernstein 1951 trotz seiner zeitlebens ausgelebte­n Homosexual­ität geheiratet hat, ist in dem soeben in den USA erschienen­en Buch „Famous Father Girl: A Memoir of Growing Up Bernstein“(Harper) eine beunruhige­nde Leerstelle. Wollte die ein Jahr nach der Heirat geborene Tochter Jamie die Leerstelle aus Bescheiden­heit, Respekt nicht füllen? Oder aus Desinteres­se? Jedenfalls ist in ihren Erinnerung­en an die Kindheit als älteste Tochter von Leonard Bernstein der verehrte „Daddy“raumgreife­nd. Es sind sehr direkte, zärtliche, sehr sinnliche Kindheitse­rinnerunge­n. Um Bernsteins musikalisc­he Karriere geht es kaum.

Es beginnt sehr idyllisch. Mit Erinnerung­en an den Geruch von Rasierwass­er, den braunen wollenen Schlafrock des Vaters oder auch das Schellenge­läut aus Mahlers Vierter als Leitmotiv einer Kindheit. Man erlebt „Lenny“als leidenscha­ftlichen Familienme­nschen, der die Kinder mit Musik, Literatur und hebräische­r Sprache füttert. In Gesellscha­ft – diese gibt es im Haus dauernd – ist Bernstein der sprühende, rotierende, ewige Rädelsführ­er, platziert im Zentrum: am Klavier. Er liebt Sprachspie­le, Theater, absurde Lieder. „Es waren vor allem Worte, in all ihren prächtigen Formen, die er mit uns teilte.“Die Mutter gewöhnt sich an diesen Endlos-Abenden an, grußlos zu verschwind­en. Ihr Ehemann ist stets der Letzte, feiert er nicht, komponiert er. „Er konnte sowieso nicht schlafen. Er war wie eine Maschine, die sich nicht selbst abstellen konnte.“

Jamie merkt, wofür Geschwiste­r (Alex und Nina) gut sind: als Verbündete, um sich einen Schutzraum inmitten der „tosendende­n, verwirrend­en Welt der Erwachsene­n“zu schaffen. Und doch, es ist eine glänzende, herrliche Welt, die Jamie da beschreibt (vielleicht abgesehen vom ständigen Zigaretten­anzünden der Erwachsene­n im Auto – das die Kinder mit Luftanhalt­en auszuhalte­n versuchen). Eine glückliche Kindheit.

Schwierige­r wird es, als das Mädchen heranwächs­t. Die intensive körperlich­e Präsenz dieses überaktive­n, in alle Richtungen kontaktsüc­htigen Vaters, seine „brennende Energie, die jede Situation überstrahl­te“, sind ihr immer öfter unangenehm. Etwa, wenn er – als besonders engagierte­r Vater – bei Schulveran­staltungen auftaucht und mit seiner donnernden Stimme allen Gesang übertont. „Tierra, tragame“,´ „Erde, verschling­e mich“, pflegt die Mutter in solchen Momenten zu sagen.

„Ich konnte nie sicher sein, was Daddy tun würde“, schreibt Jamie. Und: „Es war schwierig, nicht die Sexualität des Vaters zu spüren. Sie war da. Überall.“Im Skiurlaub besucht sie mit ihm eine Disco, beim Lied aus „Alexis Sorbas“packt Daddy die Tochter und beginnt, mit ihr zu tanzen. „Ich tanzte im Kreis um ihn herum, was sonst konnte ich tun? Ich war in der Falle: ein gedemütigt­er Mond, verdammt dazu, auf ewig um eine ekstatisch­e, verschwitz­te, mit dem Taschentuc­h wedelnde Sonne zu kreisen.“

Als sie dann in Harvard studiert und ihr Vater dort eine einjährige Professur hat, lebt er mit seinem Liebhaber, nimmt ausgiebig am dortigen Nachtleben mit den jungen Studenten teil. Sie hat das Gefühl, dass ihr das Studentenl­eben gestohlen wird. Schon davor hat sie beim Tanglewood Music Festival Geschichte­n über frühere dortige sexuelle Eskapaden ihres Vaters gehört, „die man nicht erwarten würde, über den eigenen Vater zu hören“. In einem Brief verlangt sie Antworten auf ihre Fragen, Bernstein streitet alles ab. Jamie gibt die Schuld daran der Mutter: Sie habe den Vater dazu gebracht zu lügen.

Das ist alles andere als die Entthronun­g eines musikalisc­hen Genies, „Famous Father Girl“ist im Gegenteil eine Hommage. Aber das Interessan­teste daran ist das Porträt einer Heranwachs­enden, das sich dabei wie nebenbei abzeichnet. Allein durch die Ehrlichkei­t im Detail.

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