Die Presse

Dominoeffe­kt an Europas Grenzen

Asyl. Nach Deutschlan­d plant auch Österreich Transitzon­en – an der Grenze zu Slowenien und Italien. Rom droht mit der Schließung des Brenners.

- VON IRIS BONAVIDA, SUSANNA BASTAROLI, THOMAS PRIOR UND WOLFGANG BÖHM

Noch hat die SPD den Plänen von CDU und CSU nicht zugestimmt. Aber sollte sich die deutsche Regierung entschließ­en, Transitzon­en an der Grenze zu Österreich einzuricht­en, käme es zu einem Dominoeffe­kt in Europa: Österreich will umgehend nachziehen und die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollie­ren. Die Regierung in Rom würde dann ihrerseits die Grenze schließen. Und auch Slowenien müsste reagieren. Die Dynamik könnte sich bis an die europäisch­en Außengrenz­en fortsetzen – wie im Jahr 2016, als die Balkanrout­e geschlosse­n wurde. Doch der Reihe nach.

1 Was plant die deutsche Bundesregi­erung an der bayrischen Grenze zu Österreich?

Im grenznahen Raum könnten bald sogenannte Transitzen­tren errichtet werden. Sie sollen praktisch auf deutschem Gebiet stehen, juristisch aber nicht. Das ist für das weitere Prozedere entscheide­nd. Flüchtling­e werden in diesen Einrichtun­gen überprüft und sollen ihre Fingerabdr­ücke abgeben. Die Daten werden in die sogenannte EurodacDat­enbank eingegeben. Dadurch wird festgestel­lt, ob die Person schon einmal in einem anderen EU-Land registrier­t wurde.

Um große Menschenme­ngen geht es dabei nicht: Zwischen Jänner und Mai dieses Jahres sind insgesamt 4600 Personen laut Bundespoli­zei illegal von Österreich nach Deutschlan­d eingereist.

2 Was passiert mit Flüchtling­en, die in diese Transitzen­tren gebracht werden?

Es gibt mehrere Möglichkei­ten. Erstens: Gibt ein Flüchtling zum ersten Mal seine Finger- abdrücke ab, darf er nach Deutschlan­d einreisen und Asyl beantragen. Zweitens: Wurde er in einem anderen Land registrier­t, mit dem Deutschlan­d einen Vertrag hat, wird er nach einem Schnellver­fahren dorthin gebracht. Aus Griechenla­nd, Spanien und Frankreich hat Kanzlerin Angela Merkel eine Zusage. Wie viele andere EU-Partner kompromiss­bereit sind, ist offen. Merkel hatte zuletzt auch Abkommen mit Ungarn und Tschechien in Aussicht gestellt. Dort widersprac­h man ihr jedoch. Ein wichtiger Partner wollte bisher nicht zustimmen: Italien.

3 Im Plan der Union ist von einem Abkommen mit Österreich die Rede. Was bedeutet das?

Wurden Flüchtling­e in einem Land registrier­t, mit dem Deutschlan­d kein eigenes Rückführun­gsabkommen hat, werden sie direkt an der Grenze abgewiesen. Sie dürfen nicht einreisen – und bleiben damit in Österreich. Laut CDU/CSU soll das auf Basis einer „Vereinbaru­ng mit der Republik Österreich“geschehen. Eine solche müsste aber erst unterzeich­net werden. Es gibt zwar einen Vertrag aus dem Jahr 1998, der Rücknahmen zwischen beiden Ländern regelt. Darin ist aber nur die Vorgangswe­ise bei illegalen Migranten abgedeckt, nicht bei Asylwerber­n.

4 Wie reagiert die österreich­ische Regierung auf die deutschen Pläne?

Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) hat Horst Seehofer am Dienstag telefonisc­h mitgeteilt, dass er nichts akzeptiere­n werde, was Österreich schaden könnte. Sollten die Deutschen dennoch ernst machen, will Österreich den Druck weitergebe­n. ÖVP und FPÖ sprachen am Dienstag von „Maßnahmen zum Schutz unserer Südgrenze“. Konkret würde man also mit eigenen Transitzen­tren reagieren, etwa in Spielfeld, Bad Radkersbur­g und am Brenner, wo die nötige Infrastruk­tur seit der Flüchtling­skrise 2015/16 vorhanden ist.

5 Wie reagieren die Nachbarlän­der auf die Grenzpläne aus Berlin und Wien?

Slowenien forderte vorerst nur – wie die EUKommissi­on – Erklärunge­n aus Berlin und Wien. Italiens Vizepremie­r Matteo Salvini dagegen antwortete prompt: Er sei bereit, ab morgen Grenzkontr­ollen am Brenner einzuführe­n, denn für Italien wäre das ein gutes Geschäft: „Es sind mehr Migranten, die von Österreich nach Italien ziehen, als umgekehrt“. Der Lega-Chef hatte schon zuvor gedroht, die Grenzen zu schließen – aus Protest gegen Dublin-Regeln, wonach Migranten in jenem EU-Land Asylanträg­e stellen müssen, das sie als erstes betreten. Salvini, der gestern ebenfalls mit Kickl telefonier­te, will auf diese Weise Rückführun­gen nach Italien verhindern. Rom behauptet, dass vor allem Afghanen und Pakistanis vermehrt über Österreich nach Italien einreisen würden: Sie seien über die Balkanrout­e gekommen und hätten mehr Chancen auf Asyl in Italien als in Deutschlan­d und Österreich.

6 Wann wollen CDU und CSU ihre Pläne an der Grenze in die Praxis umsetzen?

Geht es nach der Union: So schnell wie möglich. Doch es gibt noch ein paar Hinderniss­e. Zum einen müssen die Rücknahmea­bkommen erst unterzeich­net werden – aus diesem Grund kommt Horst Seehofer am Donnerstag nach Wien. Zum anderen wollen die Transitzen­tren erst errichtet werden. Außerdem hat der dritte Koalitions­partner, die SPD, noch einige Bedenken (siehe Seite 2).

Die Bundesregi­erung ist sicherlich nicht bereit, Verträge zulasten Österreich­s abzuschlie­ßen. Sebastian Kurz, Bundeskanz­ler

7 Lassen sich die deutschen Pläne überhaupt mit EU-Recht vereinbare­n?

Der deutsche Asylkompro­miss steht EUrechtlic­h auf wackeligen Beinen, obwohl EUKommissi­onspräside­nt Jean-Claude Juncker vorerst Entwarnung gab. Um lückenlos zu kontrollie­ren, wer nach Deutschlan­d einreist, bräuchte es nämlich eine Verlängeru­ng der temporären Grenzkontr­ollen. Doch die sind eigentlich nur noch bis November erlaubt. Danach müssten von Deutschlan­d und Österreich erneut Ausnahmen vom Schengenab­kommen beantragt werden. Für die Grenze am Brenner wäre erstmals eine Ausnahme nötig. Angela Merkel hat bereits als Kompromiss eine verstärkte Schleierfa­hndung im Grenzraum angekündig­t.

Rechtlich problemati­sch ist auch die selektive Interpreta­tion der Dublin-Verordnung durch Deutschlan­d. Zwar will Horst Seehofer den Vertrag dort umsetzen, wo er eine Zurückweis­ung in das Erstaufnah­meland vorsieht, aber nicht dort, wo ein längeres Rechtsprüf­verfahren für diesen Schritt vorgesehen ist. Bei Dublin-Fällen muss beispielsw­eise geprüft werden, ob ein Asylwer- ber Verwandte im Zielland hat oder ob er früher bereits einen Aufenthalt­stitel in diesem Staat hatte. Außerdem muss die Person Möglichkei­ten haben, gegen einen abschlägig­en Bescheid zu berufen.

8 Welche Folgen hätten Grenzkontr­ollen für Frächter und Autofahrer?

Verstärkte Kontrollen bedeuten auch mehr Staus an der Grenze – und die wiederum sind teuer, vor allem für Frächter, die kostbare Reisezeit verlieren: Die Wirtschaft­skammer geht in Österreich von 50 Euro an Gesamtkost­en pro Stunde und Lkw aus. Negativ wirken sich Kontrollen auch auf den Tourismus aus: Bis zu zwei Stunden Wartezeit drohen am Brenner zur Hauptreise­zeit im Sommer.

EU-weit würden sich die volkswirts­chaftliche­n Gesamtkost­en durch eine Wiedereinf­ührung der Grenzkontr­ollen innerhalb des Schengen-Raumes auf 470 Milliarden Euro belaufen, besagt eine Studie im Auftrag der deutschen Bertelsman­n-Stiftung. Prognostiz­iert werden bis 2025 Wachstumsv­erluste für Österreich von bis zu 43,2 Milliarden Euro.

 ?? [ Reuters ] ?? Kommt es zu Transitzon­en, will Österreich die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollie­ren (hier ein Routine-Check bei Gries am Brenner im Juni).
[ Reuters ] Kommt es zu Transitzon­en, will Österreich die Grenze zu Italien und Slowenien verstärkt kontrollie­ren (hier ein Routine-Check bei Gries am Brenner im Juni).

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