Der Kreml will im „ersten Russland“gewinnen
Russland. Im September wird in Moskau ein neuer Bürgermeister gewählt. Regierungskritische Kandidaten können wegen bürokratischer Hürden nicht antreten. Bei der Hauptstadt-Wahl sollen nicht zu viele Fragen aufkommen.
Es gibt eine soziologische Theorie, die besagt, dass es nicht ein Russland gibt, sondern vier. Von den Problemregionen des „vierten Russlands“bis hin zum „ersten Russland“– dem Land der aufstrebenden Millionenstädte. Nach den Protesten der Jahre 2011/12 hatte es zunächst so ausgesehen, als ginge dem Kreml im „ersten Russland“seine soziale Basis verloren. Erinnert sei an die Bürgermeisterwahl in Moskau vor fünf Jahren, als Alexej Nawalny, mittlerweile vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, gegen den Kreml-Kandidaten Sergej Sobjanin antrat. Er erhielt knapp ein Drittel der Stimmen, der Kreml spürte unbequeme politische Konkurrenz.
Experimente wie damals wird es bei der Bürgermeisterwahl am 9. September nicht geben – nicht einmal einen vom System zugelassenen „Outsider-Kandidaten“. Der Kreml will offenbar eine leise Ab- stimmung und die klare Kontrolle über die Zwölf-Millionen-Metropole, über das „erste Russland“. Darauf deuten die aktuellen Entwicklungen hinsichtlich der wichtigsten Kommunalwahl Russlands.
Der 60-jährige Amtsinhaber Sobjanin muss keinen lästigen Gegenkandidaten fürchten, der seine Amtsführung kritisieren könnte. Dank einer Regelung, die im Russischen unter dem Begriff „kommunaler Filter“bekannt ist, gelang es keinem der regierungskritischen Kandidaten, sich bis zur Deadline am 3. Juli für die Wahl zu qualifizieren. Dafür wären Unterstützungsstimmen von mindestens 110 Bezirksabgeordneten nötig gewesen, wobei aus jedem der 110 Bezirke mindestens eine Stimme kommen musste. Dem hoffnungsvollsten Kandidaten und früheren Duma-Abgeordneten Dmitrij Gudkow gelang es, mehr als 60 Unterstützer zu sammeln – bei Weitem nicht genug. Er nannte Moskau ein „Sultanat“und sprach von „illegitimen Wahlen“. Ilja Jaschin, Nawal- ny-Anhänger und selbst Vorsitzender einer Bezirksversammlung, gab sich früher geschlagen. Den Abgeordneten der Kreml-Partei Einiges Russland sei die Unterstützung eines Oppositionskandidaten untersagt worden, erklärte er. Auch der Jabloko-Kandidat Sergej Mitrochin kam nicht durch.
Der amtierende Stadtchef wird also nur Herausforderer haben, von denen er inhaltlich nichts zu befürchten hat: Es sind dies Vertreter der auch in der Duma vertretenen Kreml-nahen Oppositionsparteien – Kommunisten, Liberaldemokraten, ein Vertreter der Partei Gerechtes Russland sowie ein Unternehmer.
Sobjanin gilt als technokratischer Hauptstadtmanager, der Reformen von oben durchführt, auf kontrollierte Mitbestimmung der Bürger setzt und der Hauptstadt ein europäisches Äußeres verleiht. Die grauen Granitplatten, mit denen er die Moskauer Gehwege und Unterführungen gepflastert hat, sind zum Symbol seiner fünfjährigen Amtszeit geworden. Für die jungen Urbanen lässt Sobjanin die innerstädtischen Parks renovieren und Radwege ziehen, für die Familien werden bunte, günstige Plattenbausiedlungen am Rand der Metropole gebaut, und für die finanzschwachen Pensionisten gibt es ab 1. August ein besonderes Zuckerl: Freifahrt in der Elektritschka, dem Vorortezug, der im Sommer für Reisen zu den Datschas besonders gefragt ist. Mit Wahlzuckerln wie diesen will man für die Regierung wohlgesinnte Wählerschichten an die Urnen bewegen.
Erleichtern soll die Teilnahme bei dem Wahlgang, der bereits allerorts auf Plakaten angekündigt wird und damit Reminiszenzen an die beispiellosen Wahlaufrufe bei der Präsidentenwahl im März weckt, auch der Einsatz mobiler Wahlurnen: Moskowiter, die sich noch in ihren Wochenendhäusern befinden, sollen ebenfalls ihre Stimme abgeben.