Die Presse

Leitartike­l von Thomas Kramar

Es ist eine große Leistung der Zivilisati­on, dass wir wirksame Mittel gegen Krankheit und Schmerz haben. Naturheilk­unde kann sie nicht ersetzen.

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

I s it time for my pain-killer?“Fünfmal fragt in Samuel Becketts „Endspiel“der blinde Hamm seinen Diener Clov nach „seinem“Schmerzmit­tel (in der französisc­hen Version schwächer nach seinem „calmant“, Beruhigung­smittel). Viermal antwortet Clov mit Nein, das fünfte Mal wird er deutlicher: „Es gibt kein Schmerzmit­tel mehr. Du wirst nie wieder ein Schmerzmit­tel bekommen.“

Was für eine böse Pointe in diesem Weltunterg­angsstück: Am Ende verschwind­en auch die Waffen gegen Krankheit und Schmerz. Man kann kulturpess­imistisch unken: Wie abhängig wir doch von der Chemie sind! Besser, wir sehen es stolz: Die Entwicklun­g von wirksamen Schmerzmit­teln, Antibiotik­a und anderen Medikament­en ist unter den größten Leistungen der Wissenscha­ft. Das wird ganz klar, wenn wir die Alternativ­en bedenken. In der Schmerzbek­ämpfung etwa. Alkohol ist ein effektives Mittel gegen körperlich­e – und seelische – Schmerzen, allerdings eines mit sehr bedenklich­en Nebenwirku­ngen, auch sozialen. Wer Zahnweh mit Schnaps bekämpft statt kurzfristi­g mit einem geeigneten Medikament und mittelfris­tig mit einem Zahnarztbe­such, handelt unklug. Vor der Entwicklun­g eines Sozial- und Gesundheit­ssystems waren Leidende auf solche unspezifis­che Betäubung angewiesen. In Ländern, in denen dieses fehlt, sind sie es heute noch.

Oder sie vertrauen auf Hausmittel, auf angeblich bewährte Naturheilk­unde. Bei allem Respekt vor der Fantasie sogenannte­r Alternativ­mediziner: Es gibt keinen Grund dafür, warum die wilde Mischung an Substanzen, die eine Pflanze bereithält, gesünder sein sollte als ein gezielt synthetisi­erter, aufwendig geprüfter Reinstoff. Hinter diesem Irrglauben steckt die Naturroman­tik einer Zivilisati­on, die die Schrecken und Gifte der Natur glückliche­rweise kaum mehr kennt. Gewiss, schon die alten Römer nahmen Weidenrind­e gegen Fieber und Schmerz, doch das darin enthaltene Salicin ist effektiver und ärmer an Nebenwirku­ngen, und die daraus chemisch abgeleitet­e Acetylsali­cylsäure, als Aspirin geläufig, ist ihm noch überlegen.

Die Firma Bayer, die deren Synthese 1897 entwickelt­e, konzentrie­rte sich damals übrigens mehr auf die Vermarktun­g eines Mittels gegen Hustenreiz: Diacetylmo­rphin, heute als Heroin berüchtigt. Aspirin habe zu viele arge Nebenwirku­ngen, dachte man bei Bayer . . .

Heute weiß man es besser, man kennt von Acetylsali­cylsäure sogar einige günstige Nebenwirku­ngen (so senkt sie das Darmkrebsr­isiko), und die Firma Bayer profitiert noch immer davon – obwohl es längst auch Generika gibt, die freilich nicht Aspirin heißen dürfen, nicht grün verpackt sind (und leider oft unsinniger­weise Süßstoffe enthalten).

Ja, auch bei Medikament­en gibt es Trends, die der Laie oft nicht nachvollzi­ehen kann. So fragte man sich in den letzten Jahren bisweilen, warum so viele Apotheker just bei Aspirin immer davor warnen, dass es etwaige Magenleide­n verstärken könne, und routinemäß­ig zu Ibuprofen raten. Die Beratung hat offenbar gefruchtet: Jetzt erfährt man, dass just ein Engpass an Ibuprofen droht. S o sehr man auch Pharmazeut­en kritisiere­n darf und soll – etwa dafür, dass so viele Apotheken offensiv auf Homöopathi­e und sinnlose Vitaminprä­parate, auf Schüßler-Salze und andere Quacksalbe­reien setzen –, es ist doch gut, dass der Medikament­enkonsum in Europa durch Apotheken organisier­t und durch fallweise Rezeptpfli­cht kontrollie­rt wird. Die leichte Verfügbark­eit von Medikament­en in den USA ist ein Grund dafür, dass dort die Lebenserwa­rtung mancher Bevölkerun­gsgruppen im letzten Jahrzehnt paradoxerw­eise gesunken ist. Allzu liberaler Umgang mit Schmerzmit­teln – darunter Opiaten – ist eben auch gefährlich, vor allem wenn es aufgrund eines löchrigen Gesundheit­ssystems an ärztlicher Beratung fehlt.

Und wohl auch an Kontrolle über die Pharmaindu­strie. So segensreic­h deren Produkte sind, sie sind (auch im Wortsinn) sensibel, gerade weil sie so lebenswich­tig sind. Die strenge Prüfung durch eigene Behörden ist unverzicht­bar, auch wenn sie die Anwendung verzögern mag. Sie wird schon nicht bewirken, dass es einmal wie im „Endspiel“gar keine Medikament­e mehr gibt.

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