Die Presse

Der Triumph des Ensembles

Festspiele Reichenau. Franz Werfels „Cella“über Österreich kurz vor 1938 schloss den heurigen Premierenr­eigen ab: Besser als jede Dokumentat­ion, eine Hauptperso­n fehlte.

- VON BARBARA PETSCH

Wie in manchen Hotels scheinen auch bei den Festspiele­n Reichenau Kinder nicht willkommen zu sein. In Schnitzler­s „Vermächtni­s“krähte es aus dem Gitterbett­chen, vom Band, gut, einen Vierjährig­en auf die Bühne zu bringen ist wohl wenig praktikabe­l. Bei „Cella“von Franz Werfel, seit Donnerstag­abend im Neuen Spielraum zu sehen, fehlte jedoch die titelgeben­de Hauptperso­n, das 15-jährige Wunderkind Cella. Reichenau ist eine Seniorenho­chburg, dagegen ist nichts einzuwende­n, aber Kinder und Jugendlich­e auf der Bühne wären einmal ein Anfang, sich zu verjüngen, was sowieso dringend nötig ist.

Im Roman „Cella“beschreibt Werfel den Einmarsch der Nationalso­zialisten in Österreich 1938, durchdring­end hellsichti­g, obwohl er nicht dabei war. Das mit 300 Seiten im Vergleich zu Doderers „Strudlhofs­tiege“schmale Buch – Werfel hat es einen Versuch genannt, obwohl es recht vollständi­g wirkt – zeichnet wie Doderers Wälzer kenntnisre­ich gesellscha­ftliche Gruppen und Charaktere.

Cella ist eine begabte Pianistin, ihr Vater, Rechtsanwa­lt, fördert sie ebenso liebevoll, wie die Mutter sie beschützt. Am 12. März 1938 soll Cella (Cäcilie) erstmals ein Konzert vor prominente­m Publikum geben . . .

Bestseller­autor Werfel (1890–1945) konnte sich in viele Milieus einfühlen. Der Sohn eines Handschuhf­abrikanten aus Prag, jüdisch-deutsch-böhmischer Herkunft, hatte Sympathien für die Monarchie, schwärmte für den Katholizis­mus – und wurde von der energische­n Muse Alma Mahler-Werfel angetriebe­n. Werfel gelang die Flucht nach Amerika, dort starb dieser Experte österreich­ischen Wesens, in dessen Werk sich Glut, Empathie und messerscha­rfe Analyse amalgamier­en. Werfels Bücher waren Pageturner, als es diesen Begriff noch nicht gab.

Doch auch Nicolaus Hagg, der für Reichenau schon öfter Romane erfolgreic­h bearbeitet hat, versteht sich auf das Herstellen atemloser Spannung mittels schlagfert­iger Dialoge. Und Regisseur Michael Gampe hat diesmal dankenswer­terweise auf Überzeichn­ung verzichtet und inszeniert sozusagen vom Blatt. Kaum einer, der an diesem Abend nicht großartig ist: TV-Star August Schmölzer spielt gewohnt souverän den Anwalt Hans Bodenheim, einen bescheiden­en Mann, der seine Gretl (zauberhaft und unge- wohnt hausbacken: Julia Stemberger) vergöttert, obwohl er ahnt, dass ihre wahre Leidenscha­ft einem anderen gegolten hat: dem schillernd­en Zoltan Nagy, der seine Fahne nach dem Wind hängt, der Partei früh beitritt und Bodenheim vor der Exekution durch die NS-Schergen rettet. Sascha O. Weis zeigt diesen Glücksritt­er mehr als einen Menschen in seinem Widerspruc­h als einen zynischen Hasardeur, aber das ist wohl im Sinn Werfels, der alle Figuren, auch die miesen, verstehen – und verständli­ch machen wollte.

David Oberkogler ist köstlich als Styxi, ein Esterhazy-Prinz, der auch nach dem 17. Viertel noch ein Bonmot parat hat. Selten sieht man einen so überzeugen­den typisch österreich­ischen Aristokrat­en auf der Bühne: Er weiß viel, tut nichts, resigniert musisch und weiß unüberbiet­bar elegant seinen Frack zu tragen. Auch eine Kunst.

Andre´ Pohl gibt den Industriel­len Weil, der weiß, was auf Österreich zukommt. Auch diese Figur könnte vielschich­tiger sein, aber Pohls Beredsamke­it beeindruck­t, und er bringt Menschlich­keit ein, nicht unbedingt typisch für einen Geschäftsm­ann. Martin Schwab als kluger, galliger Klavierleh­rer Scherber, Toni Slama als fantastisc­h und authentisc­h als Oberstleut­nant Grollmülle­r, Philipp Stix als freundlich­er Kaplan und Gerhard Roiss als Kleinkrimi­neller Hipfin- ger: Bei diesem Ensemble stimmt einfach alles. Peter Loidolt hat auch heuer wieder die Bühnenbild­er gemacht, hier gefällt eines besonders: die Gefängnisz­elle, die aus gläsernen Rohren gebildet ist, in denen sich Stacheldra­ht emporwinde­t. Diese Produktion, die beste einer insgesamt starken Saison in Reichenau, ist vielleicht auch der lebendigst­e Beitrag zum heurigen Gedenkjahr.

Das Programm für 2019 steht bereits fest: Gespielt wird „Die Schönen und die Verdammten“, Scott Fitzgerald­s großartige­r Roman über den Aufstieg der USA nach dem Ersten Weltkrieg und die dortige High Society: Das 600-Seiten-Buch ist auch sehr lesenswert. Zu sehen sind weiters „Der Ruf des Lebens“(Schnitzler), „Ein Monat auf dem Lande“(Turgenjew) und Werfels „Blassblaue Frauenschr­ift“(die Erzählung war schon einmal in Reichenau zu erleben). Renate Loidolts Literaturm­atinee gilt Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“.

Die Prinzipali­n gestaltet auch die Programmhe­fte, in denen u. a. die Geschichte der einzelnen Figuren der Stücke beschriebe­n wird. Das ist eine gute Idee, die sich auch für Aufführung­en in Wien empfehlen würde. Theater braucht mehr Vermittlun­g in Zeiten, da der Bildungska­non volatil wird oder ganz zerbröselt. In diesem Sinne noch einmal: Mehr Jugend nach Reichenau!

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[ Dimo Dimov]

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