Die insulare Fiktion von Souveränität
In ungezählten Publikationen hat sich der in London lehrende deutsche Literaturprofessor Rüdiger Görner einen Namen als feinsinniger Beobachter und Kommentator gemacht. In seinem jüngsten Buch „Brexismus oder: Verortungsversuche im Dazwischen“lässt er die feine Klinge im Futteral stecken und packt stattdessen lieber den Vorschlaghammer aus: „Cum ira et studio“, mit Zorn und Eifer also, sei der Band entstanden, schreibt er im Vorwort, „ganz gegen alle wissenschaftliche Gepflogenheit“, wie der Herr Professor selbst zugibt.
Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, scheint Görners Ausgangsüberlegung gewesen zu sein, und an starken Worten lässt er es nicht fehlen. Von „bizarren Wahnvorstellungen Britanniens“bis zu einem „britischen Hochverrat am europäischen Gedanken“lauten die Vorwürfe. Die politischen Akteure des Landes würden „eine Art Hamlet II oder Dauerfortsetzungen von Downton Abbey spielen und dabei ein England zeigen, das es so nie gab“.
Manches ist mittlerweile überholt, er selbst räumt ein: „Nichts veraltet rascher als ein Kommentar zum Zeitgeschehen.“Doch Görner blickt weiter und tiefer und bezeichnet seine Darlegungen als „Wahrnehmungen eines Entsetzten“, der aus einer auch persönlichen Erschütterung schreibt. Seit mehr als drei Jahrzehnten lebt Görner in Großbritannien und hat sich seither unablässig der Kulturvermittlung gewidmet, deren Chancen und auch Grenzen er in dem
Brexismus oder: Verortungsversuche im Dazwischen 128 S., geb., € 22,70 (Universitätsverlag Winter, Heidelberg) Band ein Kapitel widmet. 2002 gründete er etwa das Ingeborg-Bachmann-Zentrum für Österreichische Literatur in London, seit 2004 ist er Professor für Germanistik und Komparatistik an der Queen Mary University of London. Da stellt sich mit dem Brexit für ihn auch die Frage nach dem Wert seines gesamten bisherigen Schaffens.
Mit dem Votum für den Austritt aus der EU haben sich die Briten nach Ansicht Görners einer „insularen Souveränitätsfiktion“hingegeben, die ihnen den „gefährlichen Traum“erlaube, „das Empire lasse sich irgendwie wiederbeleben“. 40 Jahre EU-Mitgliedschaft: scheinbar spur- und folgenlos geblieben, zunichte gemacht? Wieso? Die von den Brexit-Protagonisten ständig beschworene Wiedererlangung der Souveränität hält Görner für eine glatte Lüge: „Längst gilt es doch, die Souveränität zu besitzen,
Qdiese Abhängigkeiten nicht nur einzugestehen, sondern zu bejahen, sie wechselseitig fruchtbar zu machen, den gefährlichen Wahn vom Primat nationaler Interessenpolitik in die Vergangenheit zu versenken.“
Dass die Brexit-Kampagne mit offenen Lügen reüssieren konnte, sieht Görner als „fiasköse Bankrotterklärung der britischen politischen Kultur“und führt sie auf einen „eklatanten Mangel an politischer Bildung“zurück. Ein dummes Volk wird durch dumme Politiker geführt und trifft dumme Entscheidungen. An einer Stelle spricht er sogar von der „Diktatur der Mehrheit“, an einer anderen fragt er sich aber selbst: „Zeigten sich im Brexit Grundtendenzen im englischbritischen Bewusstsein, die man zu lange gutwillig übersehen hatte?“Den Befund dieser Erscheinung bezeichnet Görner in spielerischer Anlehnung an die „Psychopathologie“als „Brexitis“, die er folgendermaßen definiert: „Ihre schizoide Dimension besteht darin, dass diese Krankheit von denjenigen, die von ihr befallen sind, als ein Gesundbrunnen gepriesen wird.“Tatsache sei, „dass die Natur des Brexismus, ihr postimperiales Erscheinungsbild, pathogene Züge trägt“.
Görner ist keineswegs zum Spaßen zumute: „Die Lage ist inzwischen zu ernst für bloße Ironie. Zu viel steht auf dem Spiel.“Zu Recht zitiert das Nachwort den Eingangssatz von Kafkas „Verwandlung“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“So wie Gregor Samsa ist es am Morgen des 24. Juni 2016 Millionen Menschen in Großbritannien ergangen. Görner ist einer von ihnen. Doch anders als Kafkas Hauptfigur lässt er sich nicht in einen Kokon einspinnen. Dum indignor, spero.