Ein Stürmer ohne Fehl und Tadel
Halbfinale. Englands Hoffnungen bei der Fußball-WM ruhen vor allem auf TottenhamStürmer Harry Kane. Der 24-Jährige mimt den Gentleman.
Englands Hoffnungen im Halbfinale gegen Kroatien ruhen vor allem auf Tottenham-Stürmer Harry Kane.
Die Lage könnte kaum schlimmer sein: Eine Hitzewelle raubt allen buchstäblich die Luft zum Atmen. Der Brexit stellt sich als tragischer Akt der Selbstverstümmelung heraus. Die Regierung steht vor dem Fall. England ist im Juli 2018 trotzdem eine Insel der Seligen. Denn das Fußballfieber hat die Nation erfasst. Und wenn die „Three Lions“heute im WM-Semifinale gegen Kroatien spielen, ruhen die Hoffnungen von Millionen erneut vor allem auf Kapitän Harry Kane.
Das liegt nicht nur an seiner geschulten Fähigkeit, das Runde ins Eckige zu befördern. Mit bisher sechs Treffern führt der 24-jährige Tottenham-Stürmer schließlich auch die WM-Torschützenliste an. Doch Kane sagt: „Mein Ziel ist nicht der Goldene Schuh. Mein Ziel ist der WM-Titel. Wenn meine Tore der Mannschaft helfen, dann ist das wunderbar. Wenn nicht, dann werde ich laufen, kämpfen, helfen. Ich werde alles geben.“
Der Parade-Schwiegersohn
Dass Kane der erst zweite englische WM-Torschützenkönig nach Gary Lineker (1986, sechs Treffer) sein könnte, interessiert ihn (noch) nicht. Dafür lieben die Engländer Kane aber mindestens so sehr wie für seine Qualitäten als Stürmer. Nach Jahrzehnten verwöhnter, überschätzter und grotesk überbezahlter Superstars scheint das Land endlich mit einer Spielergeneration gesegnet, bei denen Ta- lent und Charakter in einem günstigen Verhältnis stehen. Kane steht dabei ganz vorn.
Statt exzentrische Frisuren, wilde Tattoos und teure Kleidung zu zeigen tritt er so auf, wie sich englische Mütter ihren Schwiegersohn wünschen. 1,88 Meter groß, die Haare nach hinten frisiert, den Bart fit getrimmt, ein Role Model. Würde Kane auf dem Plakat „Deine Nation braucht dich“um Freiwillige werben, Millionen würden seinem Aufruf folgen.
Auf dem Platz gibt er das Vorbild bis lange nach Spielschluss. Die patriotische „Daily Mail“lobt, dass keiner die Hymne mit so viel Inbrunst singt. Dem liberalen „Independent“gefällt, dass Kane nach dem Sieg über Schweden noch lange mit Fans beisammengesessen ist und eine Unzahl von Selfies geschossen hat. „Ich war selbst einmal einer von ihnen“, sagt Kane. Die „Sun“titelte nach dem Panama-Spiel sogar ausgelassen: „HARRYLUJAH!“
Als Jugendlicher zu dick
Auch abseits des Spielfelds ist Kane ohne Fehl und Tadel. Er trinkt nicht, besucht keine Nachtclubs, und verlobt ist er mit seiner Jugendliebe, die dieser Tage das zweite Kind erwartet. Bei der Geburt von Tochter Ivy war er selbstverständlich dabei und twitterte danach über das „einzigartige Erlebnis“. Nur in Karenz wird er, so hoffen seine Fans, wohl nicht gehen. Er liebt Actionfilme, spielt auf der Playstation, verfolgt American Football (Tom Brady). Wenn er es einmal krachen lässt, geht er mit Braut Kate auf ein scharfes Curry.
Kane wurde im nordöstlichen Stadtteil Walthamstow geboren und wuchs in Chingford auf. Er besuchte dieselbe Schule wie David Beckham, und bis heute wohnt er in einem vergleichsweise bescheidenen Haus. Seine Eltern wohnen übrigens gleich um die Ecke. „Mama weint gerne“, erzählt er über die nach seiner Ernennung zum Kapitän gerührte Mutter. Er war ein harter Arbeiter, aber seine Karriere begann alles andere denn erfolgreich. „Er war ein bisschen dick, nicht gerade athletisch“, begründete der damalige Leiter der Arsenal-Jugendakademie, Liam Brady, die Ablehnung des jungen Kane – ein kapitaler Fehler.
Es ist wohl das Understatement des Jahrhunderts. Mittlerweile hat Kane für die Hotspurs in 153 Champions-League-Spielen 108 Tore geschossen, wurde zweimal in Folge Torschützenkönig und zertrümmerte im Vorjahr Alan Shearers Rekord mit 39 Toren in allen Bewerben in einem Jahr. Sein Teamdebüt im März 2015 gegen Litauen krönte er bereits nach nur 80 Sekunden mit einem Kopftor.
Mit einer derartigen Bilanz ist Kane für Tottenham längst unverkäuflich geworden. Für seinen bis 2024 verlängerten Vertrag soll er zehn Millionen Pfund im Jahr bekommen. Seinen Marktwert beziffern Zeitungen mit 200 Millionen Pfund. Reine Fantasie? Aber das war bis vor wenigen Tagen auch noch die Vision, dass England erstmals seit 1966 wieder ein WM-Finale erreichen könnte. „Die Helden von damals sind unsere Inspiration“, sagt Kane. „Jetzt schreiben wir unsere eigene Geschichte.“