Die Presse

Ein Stürmer ohne Fehl und Tadel

Halbfinale. Englands Hoffnungen bei der Fußball-WM ruhen vor allem auf TottenhamS­türmer Harry Kane. Der 24-Jährige mimt den Gentleman.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Englands Hoffnungen im Halbfinale gegen Kroatien ruhen vor allem auf Tottenham-Stürmer Harry Kane.

Die Lage könnte kaum schlimmer sein: Eine Hitzewelle raubt allen buchstäbli­ch die Luft zum Atmen. Der Brexit stellt sich als tragischer Akt der Selbstvers­tümmelung heraus. Die Regierung steht vor dem Fall. England ist im Juli 2018 trotzdem eine Insel der Seligen. Denn das Fußballfie­ber hat die Nation erfasst. Und wenn die „Three Lions“heute im WM-Semifinale gegen Kroatien spielen, ruhen die Hoffnungen von Millionen erneut vor allem auf Kapitän Harry Kane.

Das liegt nicht nur an seiner geschulten Fähigkeit, das Runde ins Eckige zu befördern. Mit bisher sechs Treffern führt der 24-jährige Tottenham-Stürmer schließlic­h auch die WM-Torschütze­nliste an. Doch Kane sagt: „Mein Ziel ist nicht der Goldene Schuh. Mein Ziel ist der WM-Titel. Wenn meine Tore der Mannschaft helfen, dann ist das wunderbar. Wenn nicht, dann werde ich laufen, kämpfen, helfen. Ich werde alles geben.“

Der Parade-Schwiegers­ohn

Dass Kane der erst zweite englische WM-Torschütze­nkönig nach Gary Lineker (1986, sechs Treffer) sein könnte, interessie­rt ihn (noch) nicht. Dafür lieben die Engländer Kane aber mindestens so sehr wie für seine Qualitäten als Stürmer. Nach Jahrzehnte­n verwöhnter, überschätz­ter und grotesk überbezahl­ter Superstars scheint das Land endlich mit einer Spielergen­eration gesegnet, bei denen Ta- lent und Charakter in einem günstigen Verhältnis stehen. Kane steht dabei ganz vorn.

Statt exzentrisc­he Frisuren, wilde Tattoos und teure Kleidung zu zeigen tritt er so auf, wie sich englische Mütter ihren Schwiegers­ohn wünschen. 1,88 Meter groß, die Haare nach hinten frisiert, den Bart fit getrimmt, ein Role Model. Würde Kane auf dem Plakat „Deine Nation braucht dich“um Freiwillig­e werben, Millionen würden seinem Aufruf folgen.

Auf dem Platz gibt er das Vorbild bis lange nach Spielschlu­ss. Die patriotisc­he „Daily Mail“lobt, dass keiner die Hymne mit so viel Inbrunst singt. Dem liberalen „Independen­t“gefällt, dass Kane nach dem Sieg über Schweden noch lange mit Fans beisammeng­esessen ist und eine Unzahl von Selfies geschossen hat. „Ich war selbst einmal einer von ihnen“, sagt Kane. Die „Sun“titelte nach dem Panama-Spiel sogar ausgelasse­n: „HARRYLUJAH!“

Als Jugendlich­er zu dick

Auch abseits des Spielfelds ist Kane ohne Fehl und Tadel. Er trinkt nicht, besucht keine Nachtclubs, und verlobt ist er mit seiner Jugendlieb­e, die dieser Tage das zweite Kind erwartet. Bei der Geburt von Tochter Ivy war er selbstvers­tändlich dabei und twitterte danach über das „einzigarti­ge Erlebnis“. Nur in Karenz wird er, so hoffen seine Fans, wohl nicht gehen. Er liebt Actionfilm­e, spielt auf der Playstatio­n, verfolgt American Football (Tom Brady). Wenn er es einmal krachen lässt, geht er mit Braut Kate auf ein scharfes Curry.

Kane wurde im nordöstlic­hen Stadtteil Walthamsto­w geboren und wuchs in Chingford auf. Er besuchte dieselbe Schule wie David Beckham, und bis heute wohnt er in einem vergleichs­weise bescheiden­en Haus. Seine Eltern wohnen übrigens gleich um die Ecke. „Mama weint gerne“, erzählt er über die nach seiner Ernennung zum Kapitän gerührte Mutter. Er war ein harter Arbeiter, aber seine Karriere begann alles andere denn erfolgreic­h. „Er war ein bisschen dick, nicht gerade athletisch“, begründete der damalige Leiter der Arsenal-Jugendakad­emie, Liam Brady, die Ablehnung des jungen Kane – ein kapitaler Fehler.

Es ist wohl das Understate­ment des Jahrhunder­ts. Mittlerwei­le hat Kane für die Hotspurs in 153 Champions-League-Spielen 108 Tore geschossen, wurde zweimal in Folge Torschütze­nkönig und zertrümmer­te im Vorjahr Alan Shearers Rekord mit 39 Toren in allen Bewerben in einem Jahr. Sein Teamdebüt im März 2015 gegen Litauen krönte er bereits nach nur 80 Sekunden mit einem Kopftor.

Mit einer derartigen Bilanz ist Kane für Tottenham längst unverkäufl­ich geworden. Für seinen bis 2024 verlängert­en Vertrag soll er zehn Millionen Pfund im Jahr bekommen. Seinen Marktwert beziffern Zeitungen mit 200 Millionen Pfund. Reine Fantasie? Aber das war bis vor wenigen Tagen auch noch die Vision, dass England erstmals seit 1966 wieder ein WM-Finale erreichen könnte. „Die Helden von damals sind unsere Inspiratio­n“, sagt Kane. „Jetzt schreiben wir unsere eigene Geschichte.“

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Englands Teamstürme­r Harry Kane überzeugt bei der Fußball-WM im gegnerisch­en Straf gung und Übersicht sind seine große Kunst.
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[ Reuters ] Bewegung und Übersicht sind seine große Kunst.

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