Die Presse

Hier verhöhnt ein Traditiona­list tätowierte Mittelschi­chtler

Das sibirische Prinzip, dass man Tätowierun­gen langsam erleiden muss, ist nichts für die Tattoo-Liebhaber Europas.

- Martin Leidenfros­t, Autor und Europarepo­rter, lebt und arbeitet mit Familie im Burgenland. E-Mails an: debatte@diepresse.com

E s spricht erneut das dumpfe Vorurteil aus mir, wenn ich mit Blick auf sommerlich­e Liegewiese­n feststelle, dass es früher besser war. Wenn man früher einen Tätowierte­n sah, dann konnte man sichergehe­n, dass es sich um einen Zuchthäusl­er, einen Zirkusarbe­iter oder einen randständi­gen Rocker handeln musste. Jetzt ist auch die europäisch­e Mittelschi­cht tätowiert.

Ich habe große Achtung vor der Tradition des Tätowieren­s. Viele koptische Männer haben ein Kreuz auf die Hand tätowiert und gehen dafür, wenn sie von Islamisten gekidnappt werden, in den Tod. Mich hat besonders der Roman eines transnistr­isch-italienisc­hen Tätowierer­s beeinfluss­t. „Sibirische Erziehung“handelt vom frommen Kriminelle­n-Clan der Urki, die sich besondere Erlebnisse wie ein Tagebuch eintätowie­ren ließen. Junge Männer durften nur an Händen und Füßen tätowiert sein, „in Sibirien werden Rücken und Brust erst tätowiert, wenn der Kriminelle in seinen Vierzigern oder Fünfzigern ist“. Nur die Urki selbst vermochten die komplexen Codes und Unterschri­ften zu entschlüss­eln, so konnten sie aus einem Gesicht herauslese­n, dass der Betreffend­e zum Tode verurteilt und im letzten Augenblick begnadigt worden war. Und: „Sich die Tätowierun­g eines anderen zuzulegen, ist in der sibirische­n Tradition ein todeswürdi­ges Vergehen.“

Das sibirische Prinzip, dass man Tätowierun­gen langsam und über das ganze Leben gestreckt erleiden muss, ist nichts für die jungen Tattoo-Liebhaber Europas. Sie haben nichts erlebt, wollen aber alles, und das sofort. Ihr hedonistis­cher Individual­ismus ist die perfekte Affirmatio­n des Wirtschaft­ssystems, das dank in lebenslang­er Infantilit­ät gehaltener Konsumente­n so gut funktionie­rt.

Man könnte zugestehen, dass das bisschen Schmerz beim Tätowieren eine Tangente zur christlich­en Lehre vom Sinn des Leidens schlage und dass die Zelebrieru­ng des Körpers als Kultort von atavistisc­h-religiösen Sehnsüchte­n künde. Die gelehrten Reden vergehen einem aber, wenn man sich anschaut, was diese Mittelschi­chtler auf der Haut tragen: Es erzählt zu achtzig Prozent nichts, niente, nitschewo. Triviale Sinnsprüch­e auf Englisch oder in asiatische­n Schriftzei­chen, und ansonsten sich bis an den Hals hinaufschl­ängelnde Arschgewei­he. Mein liebster Philosoph ahnte schon vor Jahrzehnte­n: „Die Idee der freien Entfaltung der Persönlich­keit scheint ausgezeich­net, solange man nicht auf Individuen stößt, deren Persönlich­keit sich frei entfaltet hat.“

Vor tätowierte­n Zuchthäusl­ern habe ich die höchste Achtung. Ich blättere gern in „Cristo Dentro“, einem Fotoband über christlich­e Tattoos in italienisc­hen Gefängniss­en, zu dem Papst Franziskus ein Vorwort ins Telefon diktiert hat. Ein Spruch kommt mehrmals vor, auf Italienisc­h, Englisch und Rumänisch: „Nur Gott kann mich richten.“Einige Tattoos sind berückend schön: Ein Kreuz auf einem Rücken, rechts und links von einem Engelchen angebetet. Die Hände eines Inhaftiert­en, der den Rosenkranz betet, daneben der Name seiner Frau. Das dornengekr­önte Haupt Christi, aus der Brustbehaa­rung herauswach­send. Eine gotische Madonna mit gesenktem Blick, eingearbei­tet in einen geschorene­n Hinterkopf.

Was unsere Mittelschi­chtler angeht, wage ich hingegen vorauszusa­gen, dass sie ihre peinlichen Tattoos spätestens um das Jahr 2040 herum wegmachen lassen. Ihre abgeschabt­e, versiegelt­e, mumifizier­t schimmernd­e Haut wird dann ein stummes Zeugnis ablegen für den Individual­ismus unserer Zeit.

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VON MARTIN LEIDENFROS­T

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