Genie ist ein Fluch, eine Verdammnis Das Grauen der Geschichte
Leicht, zügig, assoziationsreich: Wolf Wondratscheks „Selbstbild mit russischem Klavier“.
Wien ist ein Großreich für Kaffeehauskönige. Hier werden, begleitet von raunenden Imperativen und dem Zeitungsrascheln, Reiche erobert und leichthändig wieder verspielt. Das Herrschaftsgebiet ist das Wort, gemünzt oder ungemünzt.
Hier findet auch der Dichter und Wahlwiener Wolf Wondratschek seit Jahren die rara avis für seine Menschenbilder. Diesmal ist es ein russischer Pianist. Ein heimatloser Fremder sitzt dem Erzähler in Wien gegenüber, ein Klaviervirtuose, der nun, alt und krank, von den Ärzten zu einem Leben jenseits aller Freuden und Vergnügungen verurteilt wurde. „Stell dir einen gutmütigen alten Mann vor, einen Russen, mit von seinen Großvätern ererbten asiatischen Gesichtszügen, das Produkt sich über Generationen untereinander vermischender Volksstämme, ein Kind der russischen Steppe, aufgewachsen weit hinter dem Ural, mehr ruhend als reitend auf einem Yak. Nichts an dem Mann deutet auf eine Fähigkeit hin, die, an einem Konzertflügel sitzend, von Nutzen sein könnte.“
Suvorin heißt der Russe, der einst Konzertsäle von London bis Tokio gefüllt hat. Nunmehr ist er ein verstimmter Pianist. Nichts trister, als ein Klavier zu besitzen und es nicht mehr spielen zu können. Einst war es ein „Galopp der Finger“beim Sturmritt über die Tasten. War Suvorin, wie der von ihm verehrte Glenn Gould, ein Genie? „Ich war, wenn ich spielte, der Junge, der auf der Treppe vier, fünf Stufen mit einem Satz nimmt. Jedes Spiel war eine neue Chance.“Aber, wehrt Suvorin ab, „Genie ist, wir haben genug Beispiele dafür, ein Fieber, ein Fluch, eine Verdammnis“. Beifall hat er sich gern verbeten. Die Verzauberung der Musik wird durch den Applaus getilgt, meint er. Das Leben in der Sowjetunion, „immer im Schatten absoluter Macht“, hat er nicht leichtfertig hinter sich gelassen. Aber: „Das Grauen der Geschichte war durch ihn hindurch gegangen. Wie man überlebt, war sein Problem, nicht, wie man glücklich wird.“
In Wien spricht er über die Mühsal der Kunst für denjenigen, der sie macht, und über die Sehnsucht, die sie aufrechterhält. Über seine verstorbene Frau, die mehr Heimweh hatte als er. Über seine Freunde: über Swjatoslaw Richter, den langsamen Pianisten. Und über Heinrich Schiff, den zornmütigen Cellisten. Beide leben nicht mehr.
Dichten ist Erinnern. Was einmal war, was gewesen sein könnte. Der Erzähler, ein rastlos Suchender, sieht sich in Suvorin teilweise gespiegelt.
Wondratschek erzählt leicht, zügig, assoziationsreich. Diesen federnden Stil macht ihm keiner nach. Wie ihm auch seine eigenwillige Themenwahl niemand streitig macht. Abermals hat sich der Autor in seiner neuen Prosaetüde an einen Satz von Jorge Luis Borges gehalten, den er schätzt: „Er ließ seinen Geist schweifen, und er gab diesem Geist die Gestalt vieler Personen.“
Einst hat Wolf Wondratschek seinen Ruhm in München begründet. Nun lebt er seit mehr als zwei Jahrzehnten in Wien, der Stadt, in der er seinen Namen, wie er sagt, nicht extra buchstabieren muss. Die Stadt kommt dem Menschensammler entgegen.
Am 14. August wird er unglaubliche 75 Jahre alt. Wondratschek ist ein Dichter. Einer unserer großen. Mehr ist nicht zu sagen. Chapeau!
Wolf Wondratschek
Selbstbild mit russischem Klavier Roman. 272 S., geb., € 22,70 (Ullstein Verlag, Berlin)