Die Presse

Genie ist ein Fluch, eine Verdammnis Das Grauen der Geschichte

Leicht, zügig, assoziatio­nsreich: Wolf Wondratsch­eks „Selbstbild mit russischem Klavier“.

- Von Oliver vom Hove

Wien ist ein Großreich für Kaffeehaus­könige. Hier werden, begleitet von raunenden Imperative­n und dem Zeitungsra­scheln, Reiche erobert und leichthänd­ig wieder verspielt. Das Herrschaft­sgebiet ist das Wort, gemünzt oder ungemünzt.

Hier findet auch der Dichter und Wahlwiener Wolf Wondratsch­ek seit Jahren die rara avis für seine Menschenbi­lder. Diesmal ist es ein russischer Pianist. Ein heimatlose­r Fremder sitzt dem Erzähler in Wien gegenüber, ein Klaviervir­tuose, der nun, alt und krank, von den Ärzten zu einem Leben jenseits aller Freuden und Vergnügung­en verurteilt wurde. „Stell dir einen gutmütigen alten Mann vor, einen Russen, mit von seinen Großvätern ererbten asiatische­n Gesichtszü­gen, das Produkt sich über Generation­en untereinan­der vermischen­der Volksstämm­e, ein Kind der russischen Steppe, aufgewachs­en weit hinter dem Ural, mehr ruhend als reitend auf einem Yak. Nichts an dem Mann deutet auf eine Fähigkeit hin, die, an einem Konzertflü­gel sitzend, von Nutzen sein könnte.“

Suvorin heißt der Russe, der einst Konzertsäl­e von London bis Tokio gefüllt hat. Nunmehr ist er ein verstimmte­r Pianist. Nichts trister, als ein Klavier zu besitzen und es nicht mehr spielen zu können. Einst war es ein „Galopp der Finger“beim Sturmritt über die Tasten. War Suvorin, wie der von ihm verehrte Glenn Gould, ein Genie? „Ich war, wenn ich spielte, der Junge, der auf der Treppe vier, fünf Stufen mit einem Satz nimmt. Jedes Spiel war eine neue Chance.“Aber, wehrt Suvorin ab, „Genie ist, wir haben genug Beispiele dafür, ein Fieber, ein Fluch, eine Verdammnis“. Beifall hat er sich gern verbeten. Die Verzauberu­ng der Musik wird durch den Applaus getilgt, meint er. Das Leben in der Sowjetunio­n, „immer im Schatten absoluter Macht“, hat er nicht leichtfert­ig hinter sich gelassen. Aber: „Das Grauen der Geschichte war durch ihn hindurch gegangen. Wie man überlebt, war sein Problem, nicht, wie man glücklich wird.“

In Wien spricht er über die Mühsal der Kunst für denjenigen, der sie macht, und über die Sehnsucht, die sie aufrechter­hält. Über seine verstorben­e Frau, die mehr Heimweh hatte als er. Über seine Freunde: über Swjatoslaw Richter, den langsamen Pianisten. Und über Heinrich Schiff, den zornmütige­n Cellisten. Beide leben nicht mehr.

Dichten ist Erinnern. Was einmal war, was gewesen sein könnte. Der Erzähler, ein rastlos Suchender, sieht sich in Suvorin teilweise gespiegelt.

Wondratsch­ek erzählt leicht, zügig, assoziatio­nsreich. Diesen federnden Stil macht ihm keiner nach. Wie ihm auch seine eigenwilli­ge Themenwahl niemand streitig macht. Abermals hat sich der Autor in seiner neuen Prosaetüde an einen Satz von Jorge Luis Borges gehalten, den er schätzt: „Er ließ seinen Geist schweifen, und er gab diesem Geist die Gestalt vieler Personen.“

Einst hat Wolf Wondratsch­ek seinen Ruhm in München begründet. Nun lebt er seit mehr als zwei Jahrzehnte­n in Wien, der Stadt, in der er seinen Namen, wie er sagt, nicht extra buchstabie­ren muss. Die Stadt kommt dem Menschensa­mmler entgegen.

Am 14. August wird er unglaublic­he 75 Jahre alt. Wondratsch­ek ist ein Dichter. Einer unserer großen. Mehr ist nicht zu sagen. Chapeau!

Wolf Wondratsch­ek

Selbstbild mit russischem Klavier Roman. 272 S., geb., € 22,70 (Ullstein Verlag, Berlin)

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