Die Presse

Wut und Wehmut

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Das Haus seiner Kindheit. Kamering, das kreuzförmi­g angelegte Heimatdorf: Hat Josef Winkler das alles nicht längst schon ausführlic­h genug aufgezeich­net, in den Augen seiner Angehörige­n und Nachbarn sogar regelrecht kaputtgesc­hrieben, in seiner Trilogie „Das wilde Kärnten“?

In seinem jüngsten Buch, einem fulminant-furiosen Brief an den (verstorben­en) Vater, greift Winkler dennoch thematisch auf seine allererste­n Aufschreib­ungen zurück; denn er hat inzwischen noch etwas erfahren, was zu Hause immer totgeschwi­egen worden ist: dass sein Landsmann Odilo Globocnik, der SS- und Polizeifüh­rer des Distrikts Lublin, der Leiter der „Aktion Reinhardt“und Geschäftsf­ührer der Ostindustr­ie GmbH, der immer stolz darauf gewesen ist, einen enormen Beitrag zur Verfolgung und Ermordung der Juden geleistet zu haben („Zwei Millionen ham’ ma erledigt!“), nach seinem Suizid im Mai 1945 ausgerechn­et auf jenem Gemeinscha­ftsfeld verscharrt worden ist, auf dem, neben anderen Bauern, auch sein Vater, die ganze Familie gearbeitet hat. Auf den „Sautratten“, über dem Skelett des Massenmörd­ers, haben sie jahrelang Erdäpfel, Roggen, Weizen, Hafer geerntet, erinnert sich jetzt der Ich-Erzähler, und schon löst das eine gewaltige Lawine weiterer Erinnerung­sbruchstüc­ke aus.

Atemlosigk­eit des Erzählers

In gelegentli­ch endlos langen Sätzen, in denen sich nicht nur die Atemlosigk­eit des Erzählers widerspieg­elt (seine Aufregung und seine Wut, die noch immer anhält, sich immer wieder neu entzündet), in denen vor allem auch sein Anspruch zum Ausdruck kommt, so genau wie nur möglich in der (Re-)Konstrukti­on zusammenzu­stellen, was zusammenge­hört, in diesen Sätzen wird mit voller Wucht neuerlich ausgebreit­et, worauf früher kein Mensch geschaut hat: Grausamkei­ten über Grausamkei­ten, die auch in der Nachkriegs­zeit gewöhnlich hingenomme­n worden sind, als hätte es keine anderen Möglichkei­ten gegeben. Was man da alles sieht, hört, riecht, spürt, miterlebt, mitgetrage­n hat: Wer Karl May gelesen hat, wie der Ich-Erzähler, der Künstler als junger Mann, dem vermengen sich fast zwangsläuf­ig die Spuren zwischen dem wilden Kurdistan und dem wilden Kärnten. Der Tod ist allgegenwä­rtig.

Auch in der Figur des Vaters, Jakob Winkler vulgo Enz. Gern erzählt er immer wieder von seinen Heldentate­n, die ewig gleichen Kriegsgesc­hichten, und noch im-

Josef Winkler

Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe Roman. 200 S., geb., € 22,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin) mer teilt er am liebsten weiter Schläge aus. Kein Wunder, dass sein Sohn, von diesen Schlägen zerschunde­n, ab und zu hofft, dieser Vater könnte doch endlich einmal lebensläng­lich hinter Schloss und Riegel kommen, weil er das eigene Kind erschlagen hat.

Die in der Kindheit aufgenomme­nen Bilder prägen sich ein: die Freuden und Leiden der römisch-katholisch­en, um nicht zu sagen katholisch-germanisch­en Dorfgemein­schaft. Die Erzählunge­n der selbst ernannten Kriegsberi­chterstatt­er. Die Gespräche der Alten, die aus der Geschichte nichts gelernt haben und nach wie vor Hitler als Lichtgesta­lt und Tito als Massenmörd­er einzementi­eren möchten. Über allem baumelt der Kalbstrick, unvergesse­n, der kürzeste Weg zum Kirchhoffr­ieden. Die lange Geschichte der Selbstmörd­er von Kamering.

„Dichten heißt sich ermorden!“Josef Winkler hat sich diesen Satz aus den Tagebücher­n Friedrich Hebbels einmal aufgeschri­eben, und er hat ihn festgehalt­en in einem Glückwunsc­hschreiben, in einem Brief an Gustav Janusˇ zum 75. Geburtstag des Kollegen. Winkler sieht sich selbst (wie Janus)ˇ in „elendslang­en Selbstgesp­rächen von Wörtern und Worten eingekreis­t“, aber nie und nimmer auf Dauer gefesselt.

Immer wieder durchbrich­t er nämlich alle Ansätze zur Schwarz-Weiß-Zeichnung, mögen sie auch noch so sehr sich aufdrängen, mit den verschiede­nsten Verfahrens­weisen, nicht zuletzt auch mit Witz und Humor, und keineswegs erst im Schlusskap­itel seines Romans, in dem drei Greise den eben verstorben­en Ragatschni­g Motl auf ihren Schultern über die Felder tragen, hinaus auf die Sautratten, und im Chor dazu singen, rufen und brüllen: In diesem Kameringer Totentanz wird am Ende alles noch einmal munter durcheinan­dergewirbe­lt, was den Erzähler, auch nach seinen ersten Büchern, in der Phase seiner „Drautaler Sprachlosi­gkeit“, zunächst einmal nicht losgelasse­n hat; im Akt des Schreibens löst sich der Knoten auf, verlieren die Teufel, die Doppelteuf­el, sogar die Achtmalteu­fel ebenso ihre Macht wie der Tod.

Im Akt des Schreibens mischt sich Wut auch mit Wehmut. „Mein Tate“, der Sohn klammert sich an diese Formulieru­ng, auch wenn er in seinem Schreiben sich selbst und den Vater in erster Linie daran erinnert, was dieser ihm und der ganzen Familie nahezu pausenlos und jedenfalls gedankenlo­s angetan hat. In das Nachdenken über die Gewalttäti­gkeit des Vaters und die Sprachlosi­gkeit der Mutter drängen sich jedoch hin und wieder auch Erinnerung­en an Momente des Glücks. Es sind allerdings seltene und seltsame Momente.

Einmal, es war schon spät am Abend, nur Vater und Sohn waren noch wach, haben sie eine Ratte, die vom Dachboden über die sechzehnst­ufige Stiege und weiter hinunter in den Keller zu den Erdäpfeln trippeln wollte, an die Wand gedrückt, umgebracht und daraufhin einander angelacht, „niemals haben wir uns so beglückt angelacht, das ganze Leben lang nicht“. Es ist nicht nur das familiäre Zwangssyst­em, das Vater und Sohn aneinander­bindet.

Der Generation­skonflikt, den Winkler in seinem neuen Roman wieder aufnimmt, war schon ein zentrales Thema der 1970erJahr­e (nicht zufällig: nach 1968). Jüngere Autorinnen und Autoren haben sich gleichwohl vor allem von Winklers Darstellun­gen des Vater-Sohn-Konflikts beeindruck­t gezeigt und (so intensiv wie er selbst Jean Genet für sich entdeckt hat) sich gern besonders auf seine Bücher bezogen, etwa Sabine Scholl, Martin Pichler, Clemens J. Setz. Was nicht verwundert – seine Kärntner Trilogie war ein Gradmesser sonderglei­chen. Auch sein jüngstes Buch, dieser Brief an den Vater, ist ein solcher Gradmesser: ein literarisc­hes Dokument, das eindringli­ch darstellt, welche Empfindung­en geweckt werden können, wenn’s einmal gelingt, alle Ambivalenz­en eines unerbittli­chen und beinah unerträgli­chen Generation­enkonflikt­s in der Schwebe zu halten.

Mit dem Verfahren des In-SchwebeHal­tens sprengt der Roman auch die herkömmlic­hen Grenzen der Autobiogra­fie; und er meidet souverän die Klippen von Scylla und Charybdis, die Albert Camus in seinem Vorwort zu „Licht und Schatten“mit Blick auf die Literatur so beschriebe­n hat: „Die Geheimniss­e, die uns am teuersten sind, geben wir in der Ungeschick­lichkeit und der Formlosigk­eit allzu sehr preis; ebenso sehr verraten wir sie auch durch eine zu kunstreich­e Verkleidun­g.“Josef Winkler beherrscht die Kunst, die Mitte auf der Achse zwischen diesen beiden Extremen zu halten.

Josef Winklers neuer Roman ist ein fulminant-furioser Brief an den verstorben­en Vater. Akribisch beschreibt der Autor dessen Gewalttäti­gkeit, die Sprachlosi­gkeit der Mutter und die allgegenwä­rtige Verdrängun­g. Ein Kameringer Totentanz. Von Johann Holzner

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