Die Presse

Paradoxon der digitalen Freiheit

Netzneutra­lität. Ohne Regulierun­g sei die Freiheit des Internets verloren, sagt der Wirtschaft­swissensch­aftler Leonhard Dobusch. Darüber hinaus plädiert er für eine öffentlich-rechtliche Plattform als Alternativ­e zu YouTube, Facebook und Co.

- VON CORNELIA GROBNER

Ohne Regulierun­g sei die Freiheit des Internets verloren, sagt der Wirtschaft­swissensch­aftler Leonhard Dobusch.

Das freie Internet war vielen eine große Verheißung für den Gleichstel­lungsgedan­ken. War. Die Realität hat gezeigt, dass technische Innovation­en allein gesellscha­ftliche Mechanisme­n nicht aushebeln können. Bestes Beispiel dafür ist das gemeinnütz­ige Projekt Wikipedia, ein kostenlose­s Nachschlag­ewerk im Netz, das durch weltweite ehrenamtli­che Arbeit realisiert wird. Jeder kann mitschreib­en, so das Verspreche­n.

Durch die kollektive­n Aushandlun­gs- und Korrekturp­rozesse hält das Gemeinscha­ftswerk, wie zahlreiche Vergleichs­tests gezeigt haben, in Bezug auf ihre Exaktheit und Editionsqu­alität mit den etablierte­n Lexika durchaus mit. Nach anfänglich­er Skepsis wurde Wikipedia zur lebenden Beweisführ­ung des Phänomens der Schwarmint­elligenz.

Aber die Gleichheit­sutopie schwächelt. Auch ein freies Netz ist eben nicht frei von gesellscha­ftlichen Schieflage­n. Im Gegenteil. Die technische Möglichkei­t, die allen Menschen erlauben soll, an Wikipedia mitzuschre­iben, hat diesen Gedanken nicht von der Theorie in die Praxis übersetzen können. Da wäre zum einen der massive Überhang an Männern. Die Quote der aktiven Autorinnen liegt bei mageren 16 Prozent. Zum anderen ist das Wissen von Wikipedia vornehmlic­h aus einer westlichen Perspektiv­e verfasst.

Leonhard Dobusch, Wirtschaft­swissensch­aftler an der Uni Innsbruck hat das Lexikonpro­jekt über Jahre hinweg beforscht. Er beschäftig­t sich damit, warum dessen radikale Offenheit letztlich zu Ausschlüss­en führt und wie man dies ändern kann. „Wenn ich wie Wikipedia offen für alle Menschen bin, dann bin ich eben auch offen für Leute, die sich nicht korrekt verhalten und andere belästigen. Solche Leute muss man ganz radikal hinauswerf­en, und dazu braucht es Instrument­e.“

Männlich, westlich, christlich

Dobusch zufolge ist der typische „Wikipedian­er“männlich, technisch versiert, formal gebildet, zwischen 15 und 49 Jahren alt und stammt aus einem christlich geprägten Industriel­and. An Wikipedia sehe man schön, wie unterschie­dlich die Auffassung davon, was neutral bedeute, sein könne, meint Dobusch, der gestern auch bei den Technologi­egespräche­n des Forums Alpbach über Netzneutra­lität gesprochen hat.

Anders als in den Anfangszei­ten des Internets spielt sich heute ein Großteil der Nutzung auf Plattforme­n ab, die hochgradig zentralisi­ert und kontrollie­rt sind. Das hat wiederum Auswirkung­en auf das Herstellen einer demokratis­chen Öffentlich­keit: Digitale Öffentlich­keiten werden zunehmend von sehr wenigen Plattforme­n wie Google, YouTube und Facebook strukturie­rt. Deren Regeln haben als Konsequenz einen großen Einfluss darauf, welche Form von Öffentlich­keit im Netz entsteht.

An dieser Stelle hakt die alte Frage der Netzneutra­lität mit neuem Fokus ein. Dobusch: „Ein zentraler Punkt ist diese Widersprüc­hlichkeit, dass die Plattforme­n mit dem Vorwurf konfrontie­rt sind, zu neutral – bei den Themen Hate Speech und Fake News – und gleichzeit­ig zu wenig neutral – beim Thema Algorithme­n – zu sein.“Die Neutralitä­t, die man dem Internet als Ganzes zugeschrie­ben hat und die als Voraussetz­ung für die Offenheit des Internets angesehen wird, werde also jetzt in diesem „Plattforme­ninternet“zum Streitpunk­t.

„Ich glaube aber, dass die Regulierun­g von bestehende­n marktdomin­ierenden Plattformb­etreibern nicht ausreicht, weil das Ergebnis davon nur eine Form von Neutralitä­t ist und Neutralitä­t, wie auch das Beispiel Wikipedia zeigt, immer schon umstritten ist.“Die Frage nach dem neutralen Standpunkt kann nicht eindeutig geklärt werden: „Plattforme­n, die profitgetr­ieben sind, kommen naturgemäß zu einer anderen Antwort als nicht profitgetr­iebene Plattforme­n.“

Dobusch sitzt auch im ZDFFernseh­rat und beschäftig­t sich mit der Rolle, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk in diesem Dilemma spielen könnte. Er ist der Auffas- sung, dass das Internet dessen Auftrag verändert hat: „Ist es nicht die Aufgabe eines öffentlich-rechtliche­n Rundfunks, Alternativ­en anzubieten, die diese Neutralitä­tsfrage anders beantworte­n?“Er würde meinen, ja. Im Sinn einer Art „Internetin­tendanz“.

ORF in die Pflicht nehmen

Dort solle sich jedermann am Datenausta­usch im Netz beteiligen können – und etwa einen eigenen Podcast oder das Video der Schulauffü­hrung teilen, ohne auf die kommerziel­len Plattforme­n mit deren Bedingunge­n angewiesen zu sein. Dobusch plädiert dafür, dass eine derartige Plattform zudem für ORF-Inhalte genutzt und offen lizenziert werde. Wesentlich sei, dass ein solches Angebot nicht nur benutzerfr­eundlich, sondern auch stark kuratiert sein müsse.

Schon der Philosoph Karl Popper wies einst auf das Paradoxon einer freien Gesellscha­ft hin. Diesem zufolge führt uneingesch­ränkte Freiheit zum Gegenteil von Freiheit. Analog dazu brauche es eben auch im Netz Einschränk­ungen, um große Offenheit zu erreichen. Dobusch: „Es kommt immer darauf an, wer reguliert und welche Freiheit ausgedünnt wird.“Oder salopp formuliert, wessen Freiheit mehr zählt: die der privaten Nutzer oder jene der Internetgi­ganten.

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[ Reuters/Kyle Grillot] Die Netzneutra­lität ist in den USA – trotz Protestakt­ionen in vielen Städten – seit Juni Geschichte. Die Regulierun­gsbehörde hat die Regeln zur Gleichbeha­ndlung aller Daten aufgehoben. Die EU will weiterhin am Prinzip der Netzneutra­lität festhalten.

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