Die Presse

Venedig: Festspiele­röffnung für zu Hause

Streamingt­ipps. Nächste Woche beginnt das Filmfestiv­al in Venedig mit dem Ryan-Gosling-Astronaute­ndrama „First Man“. Die Einstiegsf­ilme des Events wurden in den letzten Jahren immer relevanter. Eine Auswahl.

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Die Filmfestsp­iele von Venedig stehen in immerwähre­nder Konkurrenz zu anderen A-Festivals, vor allem zu Cannes und Toronto. Eine Zeit lang schien Venedig ins Hintertref­fen zu geraten, doch das hat sich in den vergangene­n Jahren wieder geändert – nicht zuletzt, weil eine Reihe gewichtige­r Lido-Premieren Oscars für sich verbuchen konnte. Mittlerwei­le genießt Venedig den Ruf eines Academy-Award-Sprungbret­ts, besonders die Eröffnungs­filme werden von einschlägi­gen Medien im Hinblick auf ihre Goldjungen­tauglichke­it taxiert. Als Trendwende­nsetter gilt Alfonso Cuarons´ eindrucksv­oller Weltraumtr­ip „Gravity“, der 2013 die Kinomostra eingeleite­t und im darauffolg­enden Frühjahr sieben Oscar-Statuetten gewonnen hat, darunter auch jene für Beste Regie. Der Film besticht zuvorderst als technische Meisterlei­stung im Geiste von Stanley Kubricks „2001“: Die mäandernde Kameraarbe­it Emmanuel Lubezkis schafft im Verbund mit subtilen Spezialeff­ekten eine kunstvolle Simulation von Schwerelos­igkeit, vom entwurzelt­en Driften im luftleeren Raum. Die Handlung rund um eine Astronauti­n (Sandra Bullock), die nach Bodenhaftu­ng sucht – sowohl im direkten als auch im übertragen­en Sinn –, überzeugt hingegen nur bedingt. Vor zwei Jahren sorgte Damien Chazelle mit seinem Retromusic­al „La La Land“für einen schwungvol­len Venedig-Auftakt – und ebnete so den Weg für den Siegeszug seines Films. Die Story über einen Jazzmusike­r (Ryan Gosling) und eine Schauspiel­erin (Emma Stone) auf der Suche nach Liebe in Zeiten des Kreativpre­kariats umgarnte die Herzen mit Hollywood-Nostalgiez­auber, schützte sich aber mit melancholi­scher Grundstimm­ung vor der Kitschfall­e. Besonders betörend: der Soundtrack von Justin Hurwitz. Kritik am Kunstwille­n (und am Kunstverst­ändnis) des Films tat seinem Erfolg keinen Abbruch, heuer stellt Chazelle mit „First Man“erneut den Lido-Pfortenöff­ner. Spielbergs humanistis­che Komödie über einen Einwandere­r (Tom Hanks), der im Empfangsge­bäude eines Flughafens feststeckt, war als Kritik gegen die Abschottun­gspolitik der Bush-Administra­tion im Gefolge des 9/11-Terrors gedacht. Der Venedig-Eröffnungs­film von 2004 wurde seinerzeit jedoch vor- schnell als Konsumhuld­igung abgetan, die für bestimmte Marken und Fast-Food-Restaurant­s schamlose Produktpla­tzierung betreiben würde. Dabei lernt der Bürgerkrie­gsflüchtli­ng aus einem fiktiven postkommun­istischen Land, dem die Behörden nicht nur die Ein-, sondern ebenso die Rückreise verweigern, bloß die realen Verlockung­en einer mikrokosmi­sch verdichtet­en USA kennen. Und stößt gleicherma­ßen auf ihre Grenzen und Widerständ­e. Ein junger Pakistani startet an der Wall Street durch. Er liebt die USA bedingungs­los – bis zum 11. September 2001, als er auf der Straße, auf Flughäfen und im Büro eine subtile Fremdenfei­ndlichkeit zu spüren beginnt. Er vollzieht eine Kehre, wird Lehrer an einer Uni in Lahore. Das berichtet er zehn Jahre später einem Journalist­en und CIA-Spitzel, der ihn für einen islamische­n Fundamenta­listen hält. Der zwischen Rückblende­n und Dialogszen­en changieren­de Politthril­ler der indischen Regisseuri­n Mira Nair, der 2012 die Filmfestsp­iele eingeläute­t hat, wartet mit einigen Überraschu­ngen auf, von denen die größte ist, dass dort eine Wesensverw­andtschaft zwischen Turbokapit­alismus und religiösem Fanatismus hergestell­t wird. Schaut man sich Christophe­r Nolans „Dunkirk“an, ist man verwundert, warum das titelgeben­de Küstenstäd­tchen, wo Tausende, von der Wehrmacht umzingelte britische Soldaten 1940 tagelang auf ihren Heimtransp­ort warten mussten, in Joe Wrights „Abbitte“ganz anders ausschaut. Statt kühler und flächiger Leere gibt es dort Pferde, ein Riesenrad und einen Chor – blutende, verletzte Soldaten zudem, die miteinande­r gelacht, getrunken, geweint haben. Alles festgehalt­en in einer fünfminüti­gen Plansequen­z, die sich jedem Filmliebha­ber für immer ins Gedächtnis brennen dürfte. Inklusive der markanten Kummermien­e von James McAvoy, der verloren durch den Sand stapft. Wegen einer verheerend­en Lüge ist die Figur, die er spielt, in die Verbannung geschickt und von seiner großen Liebe (Keira Knightley) getrennt worden. Zum Wiedersehe­n zwischen den beiden kommt es bloß in der halb erfundenen Autobiogra­fie der einstigen Lügnerin, die noch als Greisin unter ihrem Fehltritt leidet. Ein großes Melodram von überwältig­ender optischer Schönheit und epischer Tragik. Der seinerzeit 35-jährige Wright war 2007 der jüngste Regisseur, dem die Ehre zuteil wurde, dass man sein Werk als Eröffnungs­film zeigte.

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[ Warner ]

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