Worüber wir uns wundern: Ein Sommer der Merkwürdigkeiten
Putin macht die Regierung lächerlich, diese schwächt die Nationalbank, FPÖ-Klubchef pfeift auf Schutz persönlicher Daten, Justizminister muss gesucht werden.
Heute veröffentlicht ein Politiker den Beihilfe-Bescheid einer Migrantenfamilie. Und morgen? Wer ist als Nächstes dran?
Der Sommer unseres Staunens neigt sich dem Ende zu. Das bezieht sich nicht auf die ungewöhnlich lange Hitzeperiode, sondern darauf, dass Norbert Hofer, jetzt Verkehrsminister der FPÖ, recht hatte. „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist“, hatte er uns ja im Dezember 2016 als Präsidentschaftskandidat vorhergesagt. Jetzt wundern wir uns . . .
. . ., dass der russische Präsident, Wladimir Putin, die österreichische Bundesregierung desavouieren kann, und niemand scheint etwas daran zu finden. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, hat er vor wenigen Tagen ganz offiziell den sogenannten Arbeitsbesuch bei der Hochzeit von Außenministerin Karin Kneissl zu einem reinen Privatbesuch herabgestuft. Damit hat er das Bemühen, die Kosten für die Steuerzahler zu rechtfertigen, als plumpen Versuch, diese hinters Licht zu führen, entlarvt.
. . ., dass zu einem politischen Society-Event in Österreich ausschließlich das Team des russischen Propagandasenders Russia Today zugelassen wurde. Zu welchem Zweck dessen Bilder weltweit verbreitet werden, musste die Außenministerin und die anwesende Regierungsspitze gewusst haben.
. . ., dass der außenpolitische Schaden durch die solcherart dokumentierte vorauseilende Servilität einem Antidemokraten gegenüber in Kauf genommen wurde – während des EU-Ratsvorsitzes.
. . ., dass wenige Tage später der Präsident der ÖVP-Teilorganisation Wirtschaftsbund, Harald Mahrer, Präsident der Österreichischen Nationalbank wird und niemand etwas dabei findet. Alle Kritiker erregen sich über Mahrers Ämtersammlung. Aber noch nie in der Geschichte der Zentralbank war der Chef einer politischen Organisation Chef des Aufsichtsgremiums. Im Statement der Nationalbank heißt es, sie sei „unabhängig“. Der Wirtschaftsbund aber untersteht dem Bundesparteiobmann. Als ob die Unvereinbarkeit von Bankenvertretung (Kammer) mit Bankenaufsicht nicht ausreichen würde. Darüber allerdings wundern wir uns nicht, denn besondere Sensibilität bei Unvereinbarkeiten hat sich in Österreich seit den Tagen der Steuerberatungskanzlei eines Finanzministers noch nie entwickelt.
Allerdings sollte man sich in diesem Sommer der Seltsamkeiten auch darüber wundern . . .
. . ., dass der Fraktionschef einer Regierungspartei, Johann Gudenus (FPÖ), auf Facebook den Bescheid des Wiener Magistrats zur Sozialhilfe einer Migrantenfamilie veröffentlicht und die Frage nach dem Schutz persönlicher Daten nicht umgehend diskutiert wird. Heute ist es das Dokument für eine Migrantenfamilie – und morgen? Wer ist dann als Nächstes dran?
. . ., dass ein Regierungsmitglied ein Fall für eine Vermisstenanzeige ist. Stellen wir uns vor, Josef Moser ist als Justizminister abgängig, und niemandem fällt es auf. Eine Spurensuche ergab, dass sich Moser meist nur als Reformminister herumtreiben will, zuletzt nach Auskunft des Ministeriums bei einer Klausur, aber auch als solcher bisher nicht präsent war. Moser entzieht sich offenbar den enttäuschten Erwartungen durch Verschwinden.
Nicht immer sind es aber nur nationale Merkwürdigkeiten. Europäisch wundern wir uns . . . . . ., dass Bundeskanzler Sebastian Kurz die Sperre aller EU-Häfen für Flüchtlingsschiffe fordern kann, ohne zu sagen, was dann passieren sollte. Alle nach Albanien oder Montenegro? Oder alle Schiffe aufs Meer schicken, den Tod von Flüchtlingen bewusst in Kauf nehmen – wie Australien? Eine Rückführung in ein Land wie Libyen etwa, in dem Migranten Missbrauch und Folter drohen, würde internationales Recht brechen.
. . ., dass Ungarn Flüchtlingen in Transitzonen zwei Wochen lang die Versorgung mit Nahrungsmitteln verweigern konnte, ohne dass ein Aufschrei durch die EU ging. Ungarn ließ die Menschen bis Donnerstag einfach hungern. Und im EUVorsitzland herrschte Stille. In ein paar Wochen ist wieder alles normal, oder?