„Westliche Traumakonzepte nicht einfach übertragbar“
Pia Andreatta kennt Kriege und Krisen aus nächster Nähe. Ihre Erlebnisse fließen in die Forschung zu traumatisierten Menschen ein.
Die Presse: Wie erforscht man ein so heikles Thema wie Traumata? Pia Andreatta: Sensible Themen brauchen eine gewisse Behutsamkeit, aber man darf auch nicht zu vorsichtig sein und sie tabuisieren. Wir arbeiten mit qualitativen Forschungsmethoden, für mich waren aber auch die Beobachtungen, die ich aus der Praxis mitbringe, wichtig. Das war auch die Chance, Dinge unmittelbar erproben zu können. Zum Beispiel eine Gruppenintervention für Vermissende, und zu sehen, was sie bringt.
Sie waren lang selbst in der Krisenintervention tätig. In welchen Bereichen? Erstens in der Notfallpsychologie und Krisenintervention nach Unfällen, Todesfällen, plötzlichem Kindstod, Suizid in der Familie, oder wenn jemand vermisst wird. Zweitens bei großen Schadensereignissen, wenn etwa in der Schule etwas passiert, oder bei Naturkatastrophen wie Lawinen oder Hochwasser. Und drittens in Kriegs- und Konfliktgebieten.
Wo genau? Ich habe etwa 2013 drei Monate lang in Syrien im Raum Aleppo Kriegstraumatisierte betreut. 2014 während des Gaza-Kriegs lag der Schwerpunkt auf der Betreuung der Helfer. Anfang 2015 habe ich im Libanon Programme gegen sexualisierte Gewalt, für Kinderschutz und vor allem zur Hilfe der Helfer entwickelt. Mein allererster Einsatz war 2010 in Sri Lanka, ein halbes Jahr nach dem Bürgerkrieg: Es ist ein großer Unterschied, ob ein Einsatz unmittelbar im Kriegsgebiet, während des oder nach dem Krieg stattfindet, das sind ganz andere Aufgaben. Es dauert eine bestimmte Zeit, bis sich die Menschen sicher genug fühlen, dass die Traumatisierungen hervorbrechen. Wenn große Angst herrscht, passiert das weniger. Was kennzeichnet ein Trauma? Der Kern ist das Gefühl des totalen Ausgeliefertseins, Schutzlosseins. Ich bin handlungsunfähig, kann die Situation überhaupt nicht beeinflussen, ich stehe an der Wand. Das Trauma wird eingegrenzt, wenn sich ein Traumaopfer wieder handlungsfähig fühlt. Leute erzäh- len oft: Erst konnte ich nichts tun, aber dann habe ich die Rettung gerufen. Das ist bei Kriegstraumatisierten anders. Man möchte meinen, die Leute haben Bomben erlebt und sind jetzt in Sicherheit, aber sie sind noch nicht handlungsfähig. Die traumatisierende Situation ist noch nicht vorbei.
Wird diese Lähmung in der öffentlichen Debatte über Flüchtlinge oft unterschätzt? Absolut. Ich halte auch die klinische Formulierung einer posttraumatischen Belastungsstörung für viel zu eng. Sie wird an einem einmaligen Ereignis festgemacht: Jemand hat einen Unfall oder ein Kind wird von einem Hund gebissen. Bei Kriegstraumatisierten muss man von einem traumatischen Prozess sprechen. Die Leute erleben den totalen Zusammen-
(49) arbeitete zunächst als psychiatrische Krankenschwester. Später studierte die geborene Vorarlbergerin Psychologie und absolvierte eine Psychotherapieausbildung. 2010 war sie nach dem Aufflammen des Bürgerkriegs das erste Mal für Ärzte ohne Grenzen in Sri Lanka. Es folgten Einsätze in Syrien, Israel und im Libanon mit verschiedenen Organisationen. 2015 habilitierte sie sich an der Uni Innsbruck. Ihr Forschungsfeld ist die Trauma- und Konfliktforschung. bruch ihrer Strukturen. Man kann nicht einfach unsere westlichen Traumakonzepte übertragen.
Es braucht also kulturspezifische Modelle, um Traumata überwinden zu helfen? Genau. Ich komme aber aus dem Akut-, weniger aus dem Therapiebereich, da habe ich gemerkt: Wir wissen, wie man eine Todesnachricht überbringt, wie man Familien nach einem Suizid betreut, aber wir wissen nicht, welche Dynamiken es gibt, wenn jemand vermisst wird – in Kriegsgebieten oder hier. Ein Thema in Alpbach ist auch: Wie sind Interventionen im Akutbereich zu setzen, sodass man resilienzfördernd vorgeht, den Fokus nicht nur auf das Trauma legt? Da geht es darum, Ressourcen zu stärken, zu stabilisieren, Sicherheit zu geben.
Welcher ist Ihr aktueller Forschungsfokus? Der jüngste ist die Sprache. Man wusste schon vorher, dass Traumasprache abgehackter ist, man leichter den Faden verliert, Flashbacks ausgelöst werden. Jetzt untersuche ich, wie auf der metaphorischen Ebene über Trauma gesprochen wird. Ich hatte ein großes Forschungsprojekt zum Thema „Was ist, wenn jemand den Tod eines anderen ungewollt verursacht?“, etwa bei einem Unfall oder bei Verletzung der Aufsichtspflicht bei Lehrern, oder wenn Eltern bei einem Freizeitunfall ihr Kind verloren haben. Das gibt es auch bei Berufsfahrern und genauso bei Schusswaffengebrauch im Krieg.
Was hat sich gezeigt? Da geht es stark um Schuld und Verantwortung. Wenn man die Leute fragt: „Wie ist die Schuld für Sie?“, können sie es kaum formulieren. Aber in den Bildern ist es klar als Last dargestellt worden, als Rucksack, es ist ein Kreuzweg für mich, auf den Friedhof zu gehen. Da tauchen Bilder auf wie die vom Mythos des Sisyphos. Ein Beispiel, bei dem Forschungsergebnisse schon in die Praxis eingeflossen sind? Früher hat man die Meinung vertreten: Wenn jemand den Tod einer anderen Person verursacht, soll man ihn von der Hinterbliebenenfamilie fernhalten. Wenn es einen Wunsch nach einer Wiedergutmachungshandlung, etwa einer Entschuldigung gibt, hat man gesagt, frühestens nach einem Jahr, und eher abgeraten. Ich habe in Interviews gesehen, dass das nicht funktioniert: Die Verursacher gehen sowieso dorthin und schießen dann Böcke. Dann gibt es eine Pralinenschachtel, die keiner brauchen kann. Wir hatten auch kein Modell, was passiert, wenn beide Seiten vom gleichen Dorf sind und sich sowieso ständig begegnen. Wir haben auf Basis der Forschung Richtlinien geschaffen: wann ein Treffen stattfinden soll, wann nicht, wer dabei sein soll oder nicht. Nicht nur im häuslichen Bereich, auch bei Lawinenkatastrophen wie dem in Kaprun oder dem Brückeneinsturz in Genua. Viel Forschung zu Holocaust-Überlebenden wird übrigens jetzt wieder aus der Schublade gezogen, weil sie durch die aktuelle Traumatisierung von Menschen in Kriegen neue Relevanz gewonnen hat.
Sie befassen sich in Ihrer Arbeit ständig mit sehr belastenden Themen. Wie gelingt es Ihnen selbst, sich abzugrenzen? In meinem ersten Einsatz in Sri Lanka und auch später habe ich bemerkt, dass ich alle Faktoren einer Traumatisierung habe. Aber ich habe auch gesehen: Es findet statt, aber man muss deswegen nicht zerstört sein. Die Forschung bringt die Möglichkeit einer gewissen Abstandsperspektive.